Leben lassen - ein Mira-Valensky-Krimi
hat die Panik wieder gewonnen. Rufen und Stoßen und Rempeln und Fallen. Ich muss raus. Ich bin ohnehin schon bei den Letzten.
„Um zu zeigen, dass keine Gefahr besteht, bleibe ich hier, bis Sie alle den Saal verlassen haben“, sagt der Bürgermeister.
Drei Männer kommen auf die Bühne, er wehrt sich ein wenig, das Mikrofon fällt mit lautem Scheppern und Krachen auf das verwaiste Schlagzeug. Eine Frau in smaragdgrünem Hosenanzug wirft sich zu Boden, glaubt wohl an eine Explosion. Andere drücken noch stärker gegen jene, die vor ihnen stehen und den Weg nach draußen blockieren. Stöhnen. Der Bürgermeister wird von der Bühne gezogen. Kidnapping? Sie nehmen ihn in die Mitte. Securityleute. Sie eilen nicht zu den Flügeltüren, sondern auf das Buffet zu. Vielleicht ist alles nur inszeniert, und wie in einem Slapstickfilm fallen der Bürgermeister und seine Sicherheitsleute nun über das vorbereitete Essen her. Mira, du spinnst. Du musst dich retten. Vielleicht gibt es einen anderen Ausgang, einen, den nur die Leute aus dem Rathaus kennen. Ich renne auf die Bürgermeistertruppe zu, auch ein paar andere sind auf die neue Fluchtmöglichkeit gekommen. „Dort geht es raus“, keucht der Bürgermeister.
Wir rennen durch einen kleinen Saal. Vollkommen leer, kein Mensch, seltsam. Surreale Flucht durch lange, schmale Gänge, Türen, die weit weniger prunkvoll sind als jene des Festsaals, Stiegen hinunter, die denen in durchschnittlichen grauen Amtsgebäuden gleichen, wir stehen vor einer hohen braunen Tür. Gleich sind wir draußen. Die Tür ist versperrt. Die Securitymänner sehen einander gehetzt an.
„Den Schlüssel bitte“, sagt einer zum Bürgermeister.
Der schüttelt den Kopf und schnaubt. „Was bin ich denn? Der Hausmeister?“
Stiegen wieder hinauf, wieder Gänge entlang. Nur unser Keuchen. Unsere Schritte. Noch immer keine Detonation. Giftgas hört man nicht, Mira. Stiegen wieder hinunter. Ich bekomme kaum noch Luft. Pfeile verweisen auf Toiletten und auf Garderoben und auf die Bibliothek im Rathaus, wieder Treppen und wieder eine Tür und die ist offen, und wir sind im Rathaushof. Rennende Menschen in Abendgarderobe, man hat alle Ausgänge geöffnet, wir nehmen den, der von der Feststiege am weitesten entfernt ist, stehen schließlich auf der Straße.
Auch wenn hier nicht viele der Literaturgalaflüchtlinge sind: Ein Kamerateam wartet bereits auf den Bürgermeister, dazu drei Fotografen und ein paar Reporter. Mir fällt ein, dass ja auch ich Journalistin bin, ich hätte den Bürgermeister wohl schon auf unserer Flucht durch die Gänge interviewen sollen. Hätte ich? Jedenfalls hab ich nicht daran gedacht. Basta. Gut so. Der Bürgermeister hat einen roten Kopf. Er keucht. Ist eben kein Spitzensportler. Er sieht sich beunruhigt um, so als würde jetzt, wo alle draußen sind, sein Rathaus jeden Moment in die Luft fliegen. Einer seiner Sekretäre drängt sich zu ihm. Der Bürgermeister schiebt ihn weg.
„Ich muss zu den Leuten“, sagt er und geht, flankiert von Sekretär und Securitymännern, am Rathaus entlang, eilig, die Fotografen neben sich, vor sich.
„Hat es in letzter Zeit öfter Drohungen gegeben?“, ruft eine Reporterin.
„Kennen Sie den Wortlaut der Drohung?“, fragt ein Journalist.
„Handelt es sich um eine Bombe?“, will die Fernsehredakteurin wissen.
Der Bürgermeister beantwortet keine der Fragen, er eilt weiter. „Drüben“, sagt er bloß. Wir hetzen die hintere Längsseite des Rathauses entlang, wieder ums Eck, und da sind sie: die Büchermenschen, die Literaturleute, die Galabesucher. Beschienen vom Licht der Straßenlaternen und einiger Fernsehscheinwerfer. Warum gehen sie nicht heim? Sie stehen und starren hinauf zum Rathaus, als würden sie auf ein lange versprochenes Feuerwerk warten. Die Polizei hält sie in einiger Entfernung vom Eingang, aber hinein will sowieso keiner. Sie füllen auch die angrenzende Bartensteingasse. Ich höre, wie einer sagt: „Es soll Tote geben.“ Ein anderer: „Es soll eine kleine Bombe geben. Die große zünden sie dann unter den Schaulustigen.“ Er sieht sich gehetzt um. „Das machen sie oft.“ Und trotzdem. Auch er geht nicht. Der Bürgermeister steht breitbeinig da, die Journalisten vor sich. Jetzt redet er. Ich renne hin.
„… nicht mehr Informationen als Sie“, höre ich.
„Wo hat der Attentäter angerufen?“
„Bei der Polizei, soviel ich weiß.“
„Werden Sie wieder ins Rathaus zurückgehen?“
„Glauben Sie, dass
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