Leben macht Sinn
Leben tatsächlich ist. Er ging davon aus, dass die Welt wie auch die Geschichte keinerlei Sinn hätten. Kein geringerer als Jean-Paul Sartre pflichtete ihm bei. Er hatte für die Erkenntnis der reinen Zufälligkeit des Universums nur noch den krassen Begriff »Ekel« übrig. Und Martin Heidegger, auch er Existentialphilosoph, ging davon aus, dass die Grundverfassung des menschlichen Daseins, das »In-der-Welt-Sein«, durch »Sorge« und »Angst« gezeichnet sei. Der Mensch findet sich einer ihm völlig unverständlichen und gleichgültigen Welt gegenüber.
Mit Nietzsches schonungslosem Blick wird das Zeitalter des Nihilismus in Verbindung gebracht: Seine Diagnose, wonach Gott als persönlicher Urheber und Lenker des Menschen tot sei, führte zu einer Ernüchterung. Von da an war klar, dass es kein Zurück mehr zur früheren Weltsicht gab. Das Gefühl der Sinnlosigkeit wurde zu einem zentralen Problem.
Je nachdem, wonach man also Ausschau hält, welche Haltung man einnimmt, mit welcher Brille man die Welt sieht, so empfindet man auch sein Dasein. Auch wenn wir nicht genau sagen können, was Sinn eigentlich ist, so suchen wir doch alle das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft, eines größeren Ganzen, oder einer umfassenden Liebe zu sein, und wir streben nach Vertrauen und Geborgenheit. Der Grund dafür: wir halten es schlichtweg nicht aus, getrennt und allein zu sein, und wir halten es nicht aus, dass die Welt ein riesiges Chaos sein soll, in das wir zufällig hineingefallen und ganz auf uns allein gestellt sind. Wir sind darauf angewiesen, dass die Welt für uns irgendwie verständlich ist, auch wenn wir uns unserer Beschränktheit bewusst sind und sogar unter ihr leiden.
Deswegen suchen wir Beziehungen zu anderen Lebewesen, zur Natur oder einem größeren Ganzen. Jedes Leben wächst und strebt nach etwas, das der Philosoph Jean Grondin als »Mehrleben« bezeichnet. Man braucht nur eine Sonnenblume zu beobachten, wie sie sich der Sonne zuwendet, die Biene, die von Blume zu Blume geht, um Nektar zu sammeln, oder das Feuer und die Luft, wie sie nach oben streben. Haben wir nicht auch teil an diesem Streben? Menschen brauchen zweierlei: Sie benötigen Verbindung zu anderen und wollen über sich selbst hinauswachsen. Wir sind schicksalsempfindliche Wesen. Unsere Zuversicht ist störanfällig, unsere Wünsche schaffenUnruhe, Aufbrechen und Ankommen, Festhalten und Loslassen – das ist die gewagte Grundstimmung, die die Sehnsucht nach dem Unaussprechlichen wachhält.
Fragen wir vielleicht nicht gerade deswegen nach Sinn, weil wir selbst fühlen, dass wir irgendwohin streben, dass es uns irgendwo hinzieht, dass es mehr als das blanke Überleben gibt? Ich spreche hier von diesem »Mehr«, von dem Augustinus so schön sagte, »wo das Leben mehr Geschmack hat«, wo das Gute, das Wahre und das Schöne wohnen. Diese Kategorien des Guten, Wahren, Schönen sind keineswegs zu abgegriffen und verbraucht, wie der Psychotherapeut H. G. Petzold betont, »um nicht in ihnen und durch sie in der lebendigen Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen Menschen vielfältigen Sinn zu finden und zu schaffen«.
Sinn ist also nicht abgehoben, sondern zeigt sich ganz konkret: indem wir das Gute und Schöne aufsuchen und das Wahre suchen. Der Sinn ist in diesen aktuellen Kategorien beinhaltet. »Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst.« Ein Satz, der für mich so rundum geschlossen ist wie ein Ring. Er klingt zwar tautologisch, aber er nimmt der Sinnfrage ihren tiefschürfenden Charakter. Es geht um das Leben. Und Leben bedeutet Fülle. Diese Fülle zu teilen, auszukosten, ja sogar Teil dieser Fülle zu sein, sie zu gestalten, zu beleben, zu durchleben und weiterzugeben. Dies könnte Sinn sein. Sinn, von dem wir uns aufnehmen und mitnehmen lassen – ein dem Leben geschuldeter Sinn.
Sinn ist das Leben selbst
Eine neue Erkenntnis kann auch eine vergessene alte Wahrheit sein: Sinn ist das Leben selbst. Es schenkt sich gewiss am ehesten denen, die die sublimen Wonnen der Einfachheit noch pflegen: offene Augen, wache Ohren und ein weites Herz. Die beste Hilfe gegen alle gesellschaftlichen Sinnentleerungen ist die Wiederbelebung unserer menschlichen Würden: die Fähigkeit zum Staunen, zum Hinschauen, zum Horchen, zum Schweigen, zum Lachen, zum Gehen. Sinn meldet sich auch beim aktivsten Tatmenschen aus einer tieferen Schicht des Bewusstseins, spätestens am Abend des emsigen Alltags, wenn er innehält und seine Sinne frei werden für den
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