Leben macht Sinn
Ausrichtung geben möge. Immerhin sind es laut Umfrage (Tutsch 2000) rund 95 %, die sich von Zeit zu Zeit Sinnfragen stellen.
Kurz nach dem zweiten Weltkrieg, so beobachtete der Psychotherapeut Paul Watzlawick in Triest, herrschten Chaos und Verzweiflung. Die Stadt quoll über von Flüchtlingen, Familien waren auseinandergerissen, Wohnungsnot herrschte. Dennoch registrierte die Polizei gerade mal 14 Suizide pro Jahr. Einige Zeit später, als sich die Situation stabilisiert hatte – den Menschen ging es wirtschaftlich besser, sie fuhren wieder Auto, das Kulturlebenerwachte, die Cafés wurden wieder besucht – war die Suizidrate auf 10 pro Monat angestiegen.
Offensichtlich haben Menschen, wenn ihr Leben existentiell gefährdet ist, viel weniger Sorge um Sinnsuche und Sinnprobleme. Und wer im Schweiße seines Angesichts für das blanke Überleben sorgen muss, leidet wahrscheinlich nicht an Sinnkrisen. Erst wenn die Existenz sichergestellt ist, beginnen Menschen sich mit Sinnfragen zu beschäftigen. Deswegen haben in den westlichen Gesellschaften, in denen Wohlstand für viele herrscht, Sinnfragen und die »Sehnsucht nach Sinn« (Berger) Konjunktur. Entlastet vom Existenzkampf wachsen die Erwartungen und Ansprüche an das eigene Leben. Wenn Ziele sich als Illusionen erweisen, Pläne platzen, Vorhaben scheitern, Wünsche sich nicht erfüllen, konkurrierende Optionen überfordern, dann gerät das Leben heute mehr als früher unter Sinnlosigkeitsverdacht.
Was hat das Gefühl der Sinnlosigkeit mit dem unstillbaren Durst nach Sinn zu tun? Ein Grund liegt darin, dass wir aus einem umfassenden Sinnsystem herausgefallen sind und keinen großen Zusammenhang mehr erleben. Wenn wir nicht erfolgreich sind, gibt es kaum etwas, das uns auffängt. Wir sind auf uns selbst verwiesen und haben das Gefühl, in der großen unüberschaubaren Welt nichts zu sein oder weniger als andere zu sein. Deswegen fühlen Menschen sich innerlich leer und wollen das große Loch mit irgendetwas füllen. Und selbst denen, die im Wohlstand leben, verspricht schon das magische Wort »Sinn« ein inneres Erfülltsein, das über bloßes Wohlergehen hinausgeht.
Wie kommt es überhaupt zu Sinnfragen? Meist beginnt es ganz harmlos. Man ist unter Leuten bei irgendeinem geselligen Miteinander und plötzlich ist da diesesEmpfinden, das alles überschattet. Eine Stimmung von Sinnlosigkeit, die alles vermiest und in Frage stellt: Wofür bin ich hier? Was tue ich hier eigentlich? Wie bin ich wirklich? Man wartet auf eine Antwort, aber stattdessen herrscht Schweigen, Leere. In diesem Grübeln deutet sich etwas an, das uns von den Pflanzen auf Gottes Acker unterscheidet. Wir machen uns Gedanken darüber, was und wie wir sind und zweifeln, ob wir wirklich so sind, wie wir denken, dass wir seien. Diese Gedanken lassen sich nicht wegpredigen. Aber sie lassen sich verstehen. Denn auf den Gedanken, »wie bin ich wirklich«, kommen wir nur durch die Erfahrung, dass wir auch anders sein könnten. Weil wir wissen, dass wir irgendwie geworden sind: aus Widerfahrnissen und Zufällen, die zusammen eine gewisse Notwendigkeit ergeben, mit der man irgendwie umgehen und fertig werden muss. Wir sind unterwegs, und können unsere eingeschlagenen Wege auch ändern. Natürlich nicht beliebig, aber es gibt auch keinen vorbestimmten Weg, sondern jene eigenartige Mischung aus Selbstbestimmung und Notwendigkeit, die jeden Reisenden nun eben auszeichnet.
Um die Frage: »Bin ich auf einem guten Weg?« kommen wir nicht herum, aber sie hat etwas Befreiendes: wenn ich nämlich erkenne, was ich nicht beeinflussen kann, entdecke ich meine Möglichkeiten, meinen Weg zu ändern – und umgekehrt. Das ist zwar nicht viel, aber auch nicht wenig. Je dichter wir umstellt sind von verordneten Bedingungen, je mehr wir gefangen sind in der Agenda von anderen, desto unruhiger meldet sich die Frage nach dem Wofür, Wozu – nach dem Sinn in eigener Hand. Wie kann und will ich eigentlich leben?
Das hängt damit zusammen, dass wir Menschen die einzigen Wesen sind, die Sinn und Lebenswerte brauchen,um überhaupt leben zu können. Wir sind nicht einfach Natur, sondern wir haben ein Bedürfnis, uns zu orten und zu orientieren. Wir wollen einen Grund zum Leben haben. Wir wollen wissen, wozu wir da sind, was unsere Aufgabe in diesem Leben ist. Wir sind »zum Sinn verurteilt«, postuliert der Philosoph Merleau-Ponty. Fehlt uns der Sinn, so haben wir es schwer, uns in der Welt zu bewegen. Es fehlt die
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