Leben macht Sinn
weil das Misstrauen, die Enge, die Gereiztheit und der Geiz nicht das letzte Wort haben.
Auf seine Liebsten achten, einander die Hände reichen, in der Nähe bleiben; nur so können wir uns vergewissern, wer wir sind. Aus dem Glück eines anderen lässt sich nicht nur für den anderen, sondern auch für einen selbst viel gewinnen. So meint es jedenfalls André Gide: »Wer andere glücklich macht, wird glücklich.« Ich bin sicher, dassdieses Glück den Hunger nach Sinn anhaltender stillt als Schokolade. Auch wenn wir den Traumpartner gefunden haben, wird das Glück noch runder, wenn wir darüber unsere Nächsten nicht vergessen. Es sind diese kleinen Handreichungen, von denen wir alle leben: Geburtstagswünsche; das rechte Buch zur rechten Zeit; die warme Hand, wenn jemand deprimiert ist; der Überraschungsbesuch oder die spontane Botschaft auf dem Anrufbeantworter, die daran erinnern: Gut, dass du da bist! Gut, dass es dich gibt!
Zuwendung und Liebe kennen unzählige Varianten. Sie müssen nicht immer mit weichen Knien, Herzklopfen, trockener Kehle, überwältigender Seligkeit und weltbewegender Wichtigkeit einhergehen. Sie können auch ganz unscheinbar daherkommen. Wer sich wach und offen hält für diese oft unscheinbaren Einladungen, die immer auch auf etwas Größeres verweisen – die zugelaufene Katze; die strahlenden Augen eines Kindes; die Kranke, die sich über eine Gemüsesuppe freut; das Patenkind, das eine Auszeit von den Eltern braucht; der cholerische Nachbar, der ein paar beruhigende Worte vertragen kann; oder ein Nächster, der ein warmes Händchen braucht. Die Türe zur Liebe geht nach außen auf. Zumindest können wir ihr die Türe immer wieder aufhalten.
Aufhören
Manche Antworten auf die Frage nach dem Sinn tragen nicht ein Leben lang. Sie werden korrigiert, verändert, verworfen. Neue Einsichten verlangen ein neues Ausbalancieren dessen, was neuen Sinn macht. Verhaltensweisen, die überlebt haben, wollen verändert werden, weil sie einen behindern und nach Veränderung rufen. Was heute Sinn macht, kann morgen wieder fragwürdig sein. Andere Träume, andere Werte und andere Probleme fordern uns ständig neu heraus. Immer wieder stellt sich die Frage: Hast du dir dein Leben so vorgestellt? Ist es wirklich das, was du wolltest? Hast du überhaupt den Beruf, der dir Freude macht? Den richtigen Lebenspartner? Passt dein Hobby immer noch zu dir? Dein Kleiderstil? Deine Freunde? Deine Gewohnheiten?
Leben ist eine ständige Provokation, die wir annehmen und gestalten müssen, um immer wieder neu zu erkennen, was für uns persönlichen Sinn macht. Wir wissen zwar nicht im Voraus, was uns zufällt, aber wir haben die Wahl, der Aufforderung zur Bewegung zu folgen, sich ihr auszusetzen, oder uns dagegen zu entscheiden und stehen zu bleiben. Leben besteht aus einer Reihe vonWiderfahrnissen und Zufällen, die wir gestaltend und uns mit ihnen auseinandersetzend mit Sinn versehen. Jeder auf seine Weise, weil jeder ein lebendiges Beispiel dafür ist, was es heißt, eigenen Sinn zu gestalten.
In der Hoffnung, das Leben nach eigenen Vorstellungen planen und beherrschen zu können, umstellen sich viele mit Zeitplänen, Terminen, Ordnungssystemen, die all das festlegen, was sie sich vom Leben vorstellen und erwarten. Dahinter steckt die Hoffnung, dass sich das Leben auf seine Machbarkeit und Planbarkeit festlegen lässt. Oder wie man so schön sagt: Man hat sein Leben im Griff. Die Angst, dass das Spontane, Ungeplante, Unverhoffte verunsichert, ist weit größer als die Neugier und das Vertrauen, dass das Leben neue Impulse, neues Wachstum und neue Herausforderungen schenkt. Wo alle Lebensräume und Zeiten schon verplant sind, kann sich nichts Neues ereignen. Das Leben erstarrt in festen Strukturen, weil man festhält, wo man loslassen oder aufhören müsste.
Manchmal ist es eine Krise oder eine Krankheit, die plötzlich zum Innehalten zwingt und ganz unverhofft Zeit verschafft, die die eigene Lebendigkeit zur Selbstgestaltung braucht. Viktor von Weizsäcker nennt es das »ungelebte Leben«, das in solchen Zeiten unüberhörbar auf sich aufmerksam macht. Von solch einer Erfahrung erzählte eine Pfarrfrau: »Bevor sich mein Hautausschlag entwickelte, ging ich jeden Morgen 1000 Meter schwimmen, besuchte die kranken, alten Menschen aus der Gemeinde, führte die Hunde aus. Mittags lief ich dann ein bis zwei Stunden, abends übte ich Klavier, dann besuchte ich die Volkshochschule, nachdem ich vorher für die
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