Leben macht Sinn
zuhöre, nachsinne und mich auf das besinne, was für mich bedeutsam ist, was mich ergreift und verändert.
Unser Leben ist gespickt von Sinneswandel oder Sinnesänderungen. Manche sind aufregend und spannend, weil sie ein neues Lebenskapitel einläuten, andere sind schmerzhaft, weil sie uns zeigen, wie zerbrechlich und verletzbar wir im Grunde sind. Manche sind kränkendund bitter, wenn beispielsweise Menschen aus dem Berufsleben ausscheiden oder »aussortiert« werden. Und manche sind wie ein Befreiungsschlag aus einem Gefängnis. Aufhören hat viele Dimensionen – aufregende, spannende, schöne, schreckliche und schmerzliche.
Erinnert man sich an den Begriff in seiner Doppeldeutigkeit, so verliert er den schlechten Beigeschmack und gewinnt eine Stärke, die wir heute mehr denn je gebrauchen können. Die Stärke liegt darin, dass wir eingeladen sind, hinzuhören, auf etwas zu hören, aufeinander zu hören – und überhaupt hellhöriger zu werden. Das Aufhören im Sinne des Hinhörens ermöglicht eine neue Freiheit, die darin bestehen könnte, die Egozentrik, die unablässige Selbstbespiegelung, die sture Verteidigung des eigenen Wollens, die eigene Vorteilssuche zu durchbrechen.
Es ist in unserer lauten Zeit schwierig geworden, zu lauschen, zu horchen, innezuhalten. Und es gehört auch nicht ins Schema unserer Denkgewohnheiten, den eigenen Willen einmal hintenan zu stellen und sich dem zu beugen, was sich von innen oder außen Gehör verschaffen will. Es macht einen Unterschied, ob ich mich hörend dem Leben und den anderen aussetze. Die Stärke des Aufhörens liegt in der Kraft, hellhörig und feinspürig zu werden. Man kommt von der Ankettung an sich selbst los. Das Hören im Sinne von Hinhören ist vielleicht die einzige Hinwendung, die die egozentrischen Fesseln lösen kann, jene Egozentrik, die mich in die unablässige Selbstumkreisung treibt, bei der es immer nur um mich geht. In diesem Sinn könnte man postulieren: Aufhören verwandelt, weil ich dadurch hellhöriger werde. Indem wir lernen, aufzuhören und Nein zu sagen, entscheiden wir uns gleichzeitig für ein Ja zu unserer eigenen inneren Wahrheit. Alter Sinn will losgelassen werden, damit Platz für neuen Sinn entsteht.
»Binde deinen Karren an einen Stern«
Diese schöne, alte Metapher von Leonardo da Vinci zeigt die Richtung: Wir sollen unseren Lebenskarren an eine Vision, ein Ideal anbinden, in der Hoffnung, dass ein Stern ihn herausziehen wird. Anders gesagt: Wir sollen unsere Stärken für etwas einsetzen, das größer ist als wir selbst. Es geht darum, mehr zu werden, als man von sich aus sein kann. Das ist auch der Grundgedanke der Forscher der new science of happiness , der sogenannten positiven Psychologie, die die poetische Frage: »Was lässt das Herz des Menschen singen?« zu ihrem Motto erhoben. Ermutigende Fragen zu stellen, setzt in der Tat Kräfte frei. Statt auf unsere Defizite und Defekte zu starren, binden wir unsere Stärken an etwas Größeres. Denn das, was wir für real halten, wird in seinen Folgen real. Wir leben und sterben von unserer Vorstellungskraft.
Die Chancen stehen gut, weil eine subversive Kraft alle Zeiten überdauert hat: der Hunger nach Rückbindung an etwas Höheres. Etwas, das uns übersteigt und über uns hinausweist. Es geht darum, wie ich und mein Leben einen über den unmittelbaren Moment hinaus greifenden Zusammenhang erfahren können.
Im Unterschied zum Genuss, der nur im Moment lebt, springt die Ausrichtung auf Höheres gerade dort in die Bresche, wo es mit dem Spiel der Lüste unbefriedigend oder trivial wird. Selbst bei Menschen, die sich fortwährende Lustbefriedigung verschaffen könnten, will sich das Glück nicht so recht einstellen, weil die Tragfähigkeit eines Glückes, das nur auf Genuss baut, eine ziemlich langweilige, flache Angelegenheit ist. Gott sei Dank macht uns die Realität einen Strich durch die Rechnung, und beschert jedem von uns genügend große Portionen an Anstrengung, Mühsal, Leiden und so manche Härten und Hürden. Die Erfahrung von Sinn gleicht dieses Frustrationspotential aus, da sie langfristige geistige und seelische Befriedigung vermittelt. Wenn es Sinn macht, sind wir sogar bereit, auf sehr viel Genuss und Vergnügen zu verzichten, weil wir höher gelagerte, geistige Sinnbezüge anstreben, wie beispielsweise die des Wissens, der Kunst, der Philosophie und der Religion.
Wenn Menschen heute nach Sinn verlangen, dann meinen sie etwas, das jenseits ihrer kurzfristigen
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