Leben macht Sinn
wirklich hängt.
In seinem Gedicht »Herbst« beschreibt Rilke nicht nur das Fallen der Blätter. So sagt er ausdrücklich: »Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: es ist in allen«, um dann mit den Worten: »Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält« abzuschließen. Rilke schweigt sich aus über denjenigen, dessen Hände uns halten, aber er deutet an, dass dieses unser aller Fallen von etwas Größerem getragen ist. Es bleibt jedem selbst überlassen, wie er diesen »Einen« benennen will. Die einen nennen ihn Gott, die anderen Schicksal; gemeinsam ist beiden, dass sich ihre Unergründlichkeit nicht fixieren oder entzaubern lässt. Unsere begrenzte Sinnkapazität bringt immer gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeiten ins Spiel, und vor dem großen Mysterium bleibt uns eigentlich nur, uns zu verbeugen, oder zu schweigen, wie es der Philosoph Ludwig Wittgenstein nahelegt: »Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.« Wenn Menschen etwas als existentiell bedeutsam erleben, dann spüren sie, was dieser »Eine« für sie ist, weil sie ergriffen und verändert werden. Weil in ihrem Innern etwas zu strahlen beginnt, das über sie hinausweist.
Diese Erfahrungen finden sich nicht nur in Grenzsituationen, auch bei Erfahrungen überwältigender Schönheit, Fülle, beim Empfinden von Glück, beim Staunen und Ergriffensein, aber auch in Alltagssituationen, in denen plötzlich Sinn aufscheint, Zusammenhänge einleuchten, tiefe Stimmigkeit aufleuchtet.
Sich verbinden mit einem übergeordneten Sinn meintnicht das sorglose Anlehnen an eine starke Schulter oder das Unterschlüpfen bei selbst ernannten Seelenführern, sondern es heißt: ausgetretene, überholte Pfade verlassen; das tun, was man wirklich liebt; sich dafür einsetzen, dass das Leben über den Alltag hinaus mehr Sinn macht und an einen größeren Zusammenhang erinnern will. Ich möchte ein paar Fragen an den Schluss stellen, die in diese Richtung weisen:
Tun Sie, was Sie wirklich lieben?
Welche Gaben hat Ihnen dieses Leben verliehen? Wie setzen Sie sie um? Wofür setzen Sie sie ein?
Wann und wie blockieren Sie sich selbst?
Was hält Sie zurück?
Was sagt Ihre Angst?
Wie verhindern Sie, das Leben zu führen, das Sie eigentlich leben wollen?
Welche Lebensspur wollen Sie hinterlassen?
Wohin gehen Ihre Wünsche, Sehnsüchte, Träume?
Wofür setzen Sie Ihr Bestes – Ihre Leidenschaft – ein?
Wie sähe Ihr Leben aus, wenn Sie der Stimme Ihres Herzens folgen würden? Wie sähe es aus, wenn Sie das tun würden, was Sie größer und weiter macht?
Vielleicht haben Sie sich manche dieser Fragen ohnehin schon selbst gestellt. Mir geht es darum, Sensibilität zu wecken für die Stellen, an denen wir »in zu kleinen Schuhen laufen« (C. G. Jung). Mein Wunsch wäre es, dass wir aufhören, in unseren Definitionen von uns selbst und dem großen Ganzen zu kleinmütig zu denken. Dass wir das tun, woran unser Herz wirklich hängt. Dass wir uns überraschen lassen. Dass wir einander ermutigen und beistehen, wenn wir uns aufmachen, »den Weg nach den Sternen einzuschlagen«.
Nachwort
»Leben macht Sinn«, das sage ich mit Überzeugung und im Wissen, dass dieses Thema jeden Menschen ganz persönlich herausfordert. Deswegen kann dieses Buch nur ein subjektives sein, weil jeder seine Sinnfragen stellt und seine Antworten zu finden hat. Das erklärt auch, weshalb der Leser den einen oder anderen Aspekt vermissen oder betont finden wird. Ich maße mir nicht an, den Sinn zu besitzen, zumal das Leben in seiner Gesamtheit ohnehin zu groß ist, um Gegenstand der Selbsterkenntnis zu sein.
Es wäre falsch zu sagen, Sinn sei ein Mittel, um glücklich zu sein. Sinn ist ein Nebenprodukt, das sich ergibt, wenn wir auf eine für uns stimmige Weise im Fluss sind. Sinn kann man nicht machen, man erfährt ihn, wenn man sich mit all dem, was und wie man ist, auf den Weg macht. Sinn steht als verborgene Chiffre eines zu erringenden Ziels, dass wir leidenschaftlich wollen: die Einheit von Denken und Fühlen, die innere Zusammengehörigkeit unseres Wollens und unserer Fertigkeiten.
Die Sinnreflexion ist ein Wert in sich – wie die Liebe. Sinn darf nicht mit Wohlergehen gleichgesetzt werden.Aber zu fragen, was Sinn macht, hilft, das Leben als lebenswert und mitunter auch liebenswert zu empfinden. Es gibt Erfahrungen, die aufs engste mit den erwähnten Sinnfacetten verknüpft sind: die Übereinstimmung mit
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