Leben nach dem Tod - warum es nicht irrational, sondern logisch ist, an das Jenseits zu glauben
mir ganz egal.«
Auf den ersten Blick wirkt ein solcher Starrsinn einfach beschränkt, aber wahrscheinlich ist er die Folge einer tiefen Verleugnung. Die Vorstellung, aus dem Fenster zu springen, ist so traumatisch, dass es uns einfacher erscheint, so zu tun, als würde das Feuer uns nie erreichen. Dasselbe gilt für den Tod: Wir wissen, dass er näher rückt, aber wir handeln so, als träte er niemals ein. Ungeachtet der pragmatischen Haltung meines Freundes ist Verleugnung in dieser Situation die am wenigsten brauchbare Einstellung. Dennoch steht er damit nicht allein; die große Mehrheit der Menschen, besonders hier im Westen, gründet ihr Leben auf einer Verleugnung des Todes. Wir leben, als könnten wir nicht schon am folgenden Tag oder sogar auf der Stelle tot sein, und dann trifft uns eines Tages die bestürzende Erkenntnis: »Ich werde bald sterben.« Die Unvermeidlichkeit des Endes und die Unvorhersehbarkeit seines Zeitpunkts führen dazu, dass wir in aller Regel den Gedanken an den Tod beiseiteschieben und weithin nach dem Motto leben: »Lass uns so tun, als ob.« Es gibt sogar religiös Gläubige,
die das Thema ausblenden. Da ist beispielsweise die Geschichte eines englischen Vikars, der gefragt wurde, ob er damit rechne, in den Himmel zu kommen, und was er dort vorzufinden erwarte. »Nun, was das angeht, denke ich doch, dass ich an ewige Glückseligkeit glaube«, erwiderte er, »aber es wäre mir lieber, Sie würden nicht solche deprimierenden Themen anschneiden.« 4
Sogar unsere kulturellen Institutionen setzen voll und ganz auf Leugnung. In seiner Untersuchung Geschichte des Todes 5 merkt der Historiker Philippe Ariès an, dass der Tod früher als Teil des Lebens betrachtet wurde. Sogar die Jungen waren vollständig damit vertraut. Die Menschen starben typischerweise zu Hause, und Leichenzüge waren in den Gemeinden ein fast alltäglicher Anblick, wobei der Tote offen zur Schau gestellt wurde und die Trauernden lauthals klagten und heulten. So ist es in anderen Kulturen immer noch, auch in meinem Geburtsland Indien. Aber im Westen, so schreibt Ariès, gibt es heutzutage eine ausgeklügelte Prozedur zur »Vertuschung« des Todes. In Amerika und Europa sterben die Menschen nicht mehr zu Hause vor den Augen der Familie. Sie sterben in Krankenhäusern, abgeschnitten von ihrer vertrauten Umgebung. Sogar die engsten Angehörigen kommen nur zu Besuch und erleben den Tod nicht mehr aus nächster Nähe. In der letzten Szene dieses nüchternen Dramas erscheint der Arzt und informiert uns feierlich: »Er ist dahingeschieden.« Oder: »Er ist heimgegangen.« Die Euphemismen sind zahlreich; man hat nicht einmal mehr den Mut, um zu sagen: »Er ist tot.«
Wenn man die Nachricht erhält, darf man trauern, aber die Trauer darf nicht öffentlich zur Schau gestellt werden. Schreien und hysterische Anfälle sind bei der Beerdigung
nicht erlaubt, nicht mal der Frau oder den Kindern. Ariès nennt das die »Unschicklichkeit der Trauer«. Im Westen nehmen die Menschen an Beerdigungen teil, weil sie sich dazu verpflichtet fühlen, aber niemand will wirklich mitgehen. Man fühlt sich unbehaglich dabei, die Leiche oder den Sarg zu sehen. Wir tun uns das nicht gern an, und wir können das Ende der Zeremonie kaum erwarten, um wieder zu unserem normalen Alltag zurückzukehren. Ich bemerke oft, dass die Leute sogar in Gesprächen nur ungern die Namen von Toten nennen. Fast ist es so, als hätten sie ihre Rolle ausgespielt und man würde nun von ihnen erwarten, dass sie die Bühne dauerhaft verlassen haben. Im Westen sterben die Menschen nicht, sondern sie verschwinden einfach. Und die Fragen, was der Tod bedeutet und ob es irgendetwas danach gibt, werden kaum öffentlich diskutiert. Bei aller morbiden Neugier unserer Boulevardblätter und Fernsehshows scheint dieses Thema dort niemals aufzutauchen. Das Leben nach dem Tod ist ein heißes Eisen, das wir nicht anfassen dürfen. Unsere Kultur rühmt sich zwar stolz ihrer Aufgeschlossenheit und Freimütigkeit, zeigt jedoch eine intensive Abneigung davor, sich mit der größten aller Menschheitsfragen auseinanderzusetzen.
Interessanterweise wurde ebendiese Frage in der Vergangenheit meist nicht einmal als eine offene betrachtet. Die Antwort schien vielmehr auf der Hand zu liegen. In allen Kulturen der Welt, im Osten wie im Westen, und zu allen Zeiten waren sich die Menschen sicher, dass dieses Leben nur ein Kapitel in einer umfassenderen Geschichte der Existenz darstellt und dass es
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