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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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die immer gleichen Klavierübungen ertönten. Plötzlich zeigte meine Mutter mit dem Finger auf etwas.
    »Schau«, sagte sie, »dort ist die Welt untergegangen.«
    Ich folgte ihrem Zeigefinger und sah den Bahnhof: ein Gebäude aus schartigem Holz, mit Satteldächern aus Zink und umlaufenden Baikonen, und davor eine leere, kleine Plaza, auf der allenfalls zweihundert Personen Platz gefunden hätten. Dort hatte, wie meine Mutter an jenem Tag präzisierte, das Heer 1928 eine nie geklärte Zahl von Tagelöhnern der Bananengesellschaft erschossen.
    Ich kannte diese Episode, als hätte ich sie selbst erlebt, da ich sie, seitdem ich mich erinnern konnte, tausendmal von meinem Großvater erzählt bekommen hatte: Der Offizier liest das Dekret vor, in dem die streikenden Landarbeiter zu einer Horde von Übeltätern erklärt werden; dreitausend Männer, Frauen und Kinder regungslos unter der barbarischen Sonne, nachdem der Offizier ihnen eine Frist von fünf Minuten gegeben hat, um den Platz zu räumen; der Feuerbefehl, das Geknatter der Salven, weißglühendes Spucken, die Menschenmenge in Panik zusammengepfercht, während man sie Zug um Zug mit der methodischen und unersättlichen Sense der Maschinengewehre niedermäht.
    Die Bahn erreichte Ciénaga um neun Uhr morgens, sammelte die Passagiere der Schiffe ein und jene, die aus der Sierra kamen, und fuhr eine viertel Stunde später in das Innere der Bananenregion weiter. Meine Mutter und ich kamen nach acht am Bahnhof an, der Zug hatte jedoch Verspätung. Dennoch waren wir die einzigen Passagiere. Sie bemerkte es, als sie in den leeren Waggon stieg, und rief fröhlich aus:
    »Was für ein Luxus! Wir haben den ganzen Zug für uns!«
    Ich habe mir immer gedacht, der Jubel sei vorgetäuscht gewesen und habe ihre Ernüchterung überspielen sollen, denn schon am Zustand der Waggons ließen sich die Verheerungen der Zeit auf den ersten Blick erkennen. Es waren die alten Wagen der zweiten Klasse, doch nun ohne Sitze aus Strohgeflecht, ohne die Fenster, die man hoch- und hinunterschieben konnte, jetzt gab es nur Holzbänke, die von den warmen, flachen Gesäßen der Armen gegerbt waren. Verglichen mit früheren Zeiten, war nicht nur der Waggon, sondern der ganze Zug ein Gespenst seiner selbst. Einst hatte er drei Klassen gehabt. Die dritte Klasse, in der die Ärmsten reisten, bestand aus den gleichen Bretterwagen, in denen die Bananen oder das Schlachtvieh transportiert wurde, und war für die Passagiere mit langen Längsbänken aus rohem Holz ausgestattet. In der zweiten Klasse gab es strohgeflochtene Sitze mit Messingrahmen. Die erste Klasse, in der die Regierungsbeamten und hohe Angestellte der Bananengesellschaft reisten, hatte Läufer in den Gängen und mit rotem Samt bezogene Sessel, bei denen man die Position der Rücklehnen verstellen konnte. Wenn der Beauftragte der Gesellschaft oder seine Familie oder vornehme Gäste auf die Reise gingen, hängte man ans Ende des Zuges einen Luxuswaggon mit getönten Scheiben und vergoldeten Gesimsen und einer offenen Plattform mit Tischchen, auf der man während der Fahrt Tee trinken konnte. Ich kenne keinen Sterblichen, der diese phantastische Karosse je von innen gesehen hat. Mein Großvater war zweimal Bürgermeister, hatte im Übrigen ein lockeres Verhältnis zum Geld, zweiter Klasse reiste er aber nur, wenn eine Frau der Familie dabei war. Und wenn er gefragt wurde, warum er selbst dritter Klasse fahre, antwortete er: »Weil es keine vierte gibt.« Am erinnerungswürdigsten war jedoch die Pünktlichkeit. Die Uhren der Ortschaften wurden nach der Einfahrt des Zuges gestellt.
    An jenem Tag fuhr er aus diesem oder jenem Grund mit anderthalb Stunden Verspätung ab. Als er sich sehr langsam und mit einem kläglichen Quietschen in Gang setzte, bekreuzigte sich meine Mutter, kehrte aber sogleich in die Wirklichkeit zurück.
    »Dieser Zug braucht Öl für die Federung«, sagte sie.
    Wir waren die einzigen Passagiere, womöglich im ganzen Zug, und bis zu diesem Zeitpunkt hatte nichts wirklich mein Interesse geweckt. Unablässig rauchend tauchte ich in die Schwüle von Licht im August ein, schaute nur gelegentlich kurz auf, um zu sehen, welche Orte wir hinter uns ließen.
    Mit anhaltendem Pfeifen durchquerte der Zug das Sumpfgebiet und raste mit voller Geschwindigkeit in eine erbebende Schlucht aus roten Felsen, in der das Donnern der Waggons unerträglich wurde. Doch nach etwa fünfzehn Minuten drosselte er das Tempo und fuhr mit vorsichtigem

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