Lebens-Mittel
aufgebaut. Das hat uns unter anderem große Mengen an billigem Fleisch und Milch beschert, die uns wiederum sehr viel größere Menschen beschert haben. Ob sie auch gesünder sind, ist eine andere Frage.
Es scheint eine nutritionistische Regel zu sein, dass jedem guten Nährstoff ein schlechter gegenüberstehen muss, von dem er sich abheben kann; der schlechte bündelt unsere Ernährungsängste, der gute unsere Begeisterung. Die Gegenbewegung auf das Protein setzte in Amerika an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein, als Ernährungsgurus wie John Harvey Kellogg und Horace Fletcher (auf den ich noch zurückkommen werde) die nachteiligen Folgen des Proteins für die Verdauung anprangerten (angeblich stimulierte es die wilde Vermehrung toxischer Bakterien im Darm) und stattdessen die saubereren, bekömmlicheren Kohlenhydrate in den Vordergrund rückten. Als Vermächtnis dieser Neubewertung haben wir jetzt die Frühstückszerealien auf dem Tisch, deren strategisches Ziel darin bestand, das tierische Protein in der Morgenmahlzeit zu entmachten.
Seitdem ist die Geschichte des modernen Nutritionismus gekennzeichnet von sich bekriegenden Makronährstoffen: Proteine gegen Kohlenhydrate; Kohlenhydrate gegen Proteine und dann gegen Fette; Fette gegen Kohlenhydrate. Seit Liebigs Zeiten hat jede Epoche des Nutritionismus den größten Teil ihrer Energien um einen imperialen Nährstoff geschart: im 19. Jahrhundert das Protein, im 20. das Fett, und im 21. Jahrhundert werden aller Voraussicht nach die Kohlenhydrate im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen. Im Schatten dieser Titanenkämpfe tobten derweil in den ausufernden Imperien der Großen Drei kleinere Bürgerkriege: raffinierte Kohlenhydrate gegen Ballaststoffe; tierisches Protein gegen pflanzliches Protein; gesättigte Fette gegen mehrfach ungesättigte Fette; und schließlich, weit hinten in der Provinz der mehrfach ungesättigten Fette, Omega-3- gegen Omega-6-Fettsäuren. Wie viele andere Ideologien auch baut der Nutritionismus sich um einen Dualismus auf, sodass es immer einen bösen Nährstoff geben muss, den die Anhänger verteufeln, und auf der anderen Seite einen rettenden, den sie heiligsprechen. Im Augenblick brillieren in der Rolle der Ersteren die Transfettsäuren, in der Rolle der Letzteren die Omega-3-Fettsäuren. Es versteht sich von selbst, dass dieser manichäische Blick auf das Essen dazu prädestiniert ist, Ernährungsmarotten und -phobien und weite, abrupte Ausschläge des Ernährungspendels zu fördern.
Eine weitere potenziell ernsthafte Schwäche der nutritionistischen Ideologie mit ihrer steten Konzentration auf messbare Nährstoffe ist ihre Schwierigkeit, qualitative Unterschiede zwischen Lebensmitteln zu erkennen. Fisch, Rindfleisch und Geflügel werden durch die Nutritionistenbrille zu bloßen Zulieferern für unterschiedliche Mengen diverser Fette, Proteine und aller sonstigen Nährstoffe, die sie gerade im Visier hat. Milch wird durch diese Brille auf eine Suspension von Protein, Laktose, Fetten und Kalzium in Wasser reduziert, obwohl es durchaus möglich ist, dass die Vorteile oder übrigens auch die Risiken des Milchtrinkens auf gänzlich anderen, bislang übersehenen Faktoren (Wachstumshormone?) oder Beziehungen zwischen Faktoren (fettlösliche Vitamine und gesättigtes Fett?) beruhen. Milch bleibt ein Lebensmittel, dessen Komplexität bescheiden machen kann, wenn man sich die lange, traurige Saga der Bemühungen vor Augen hält, sie nachzumachen. Die Geschichte der Milchnahrung für Säuglinge war von Anfang bis Ende die Geschichte eines übersehenen Nährstoffs nach dem anderen: Liebig vergaß die Vitamine und die Aminosäuren, und seine Nachfolger vergaßen die Omega-3-Fettsäuren, und bis heute entwickeln sich Babys, die mit einer »alle Nährstoffe enthaltenden« Milchnahrung gefüttert werden, nicht so gut wie Babys, die Muttermilch bekommen. Die Milchnahrung für Säuglinge ist, mehr noch als die Margarine, das ultimative Testprodukt für den Nutritionismus und ein guter Maßstab für seine Selbstüberschätzung.
Das bringt uns zu einem der beunruhigendsten Merkmale des Nutritionismus, das aber wohl nicht jedem den Schlaf rauben wird. Wenn die Quantifizierung der in Lebensmitteln enthaltenen Nährstoffe (oder, genauer gesagt, der in Lebensmitteln identifizierten Nährstoffe) im Mittelpunkt steht, fallen die qualitativen Unterschiede zwischen intakten und weiterverarbeiteten Lebensmitteln leicht unter den Tisch. »[Wenn]
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