Lebens-Mittel
Wissenschaften über die Zusammenhänge zwischen Ernährung und Krebs machte die mit behördlicher Absolution versehene Lebensmittelindustrie sich daran, Tausende populärer Lebensmittelprodukte umzudesignen: Sie enthielten jetzt mehr von den Nährstoffen, die Wissenschaft und Regierung für die guten hielten, und weniger von denen, die als schlecht galten. Für die Lebensmittelwissenschaft begann ein goldenes Zeitalter. Wie Löwenzahn schossen in den Supermarktgängen die Fachbegriffe aus dem Boden: fettarm, cholesterinfrei, ballaststoffreich . Die Angabe der Inhaltsstoffe auf Lebensmitteln, die früher aus zwei oder drei Zutaten bestanden hatten – Mayonnaise, Brot oder Joghurt zum Beispiel -, blähte sich zu einer langen Liste mit neuen Zusatzstoffen auf, die in einem unwissenderen Zeitalter als Verfälschungsmittel bezeichnet worden wären. Das Esst-mehr-Haferkleie-Jahr – auch bekannt als 1988 – war so etwas wie die Coming-out-Party für die Lebensmittelwissenschaftler, die es fertigbrachten, das Zeug in praktisch jedes weiterverarbeitete Lebensmittel zu packen, das in Amerika verkauft wurde. Der Haferkleie-Auftritt im Ernährungstheater dauerte nicht lange, aber die Blaupause war jetzt da, und seitdem tritt alle paar Jahre ein neuer Nährstoff-Stern ins Rampenlicht des Marketings. (Derzeit: Bühne frei für die Omega-3-Fettsäuren!)
Nun würde man nicht unbedingt vermuten, dass auch gängige Schlachttierrassen der Nährstoffmode entsprechend umgestrickt werden könnten, aber bei einigen war es möglich und wurde in Reaktion auf die Ernährungsrichtlinien von 1977 und 1982 tatsächlich getan; Tierforscher fanden nämlich heraus, wie man magerere Schweine und Rinder züchten konnte. Weil in der Bevölkerung die Fettphobie grassierte, verlor eine Menge Vieh seine Marmorierung, und mageres Schweinefleisch wurde nun als »das neue weiße Fleisch« auf dem Markt positioniert – auch wenn es geschmacklos und zäh wie Leder war, konnte jetzt sogar ein Schweinekotelett mit Geflügelfleisch konkurrieren, wenn der Esser »seine Aufnahme gesättigter Fette reduzieren« wollte. In den folgenden Jahren fanden Eierproduzenten eine clevere Möglichkeit, sogar das verrufene Ei reinzuwaschen: Sie verfütterten Leinsamen an die Hennen und konnten so den Omega-3-Anteil im Eigelb erhöhen. Tierwissenschaftler wollen jetzt das Gleiche mit Schweine- und Rinderfett machen und arbeiten daran, per Gentechnik die Omega- 3-Fettsäuren in Schweine zu befördern und das Vieh zum Leinsamenmittagessen zu überreden; so soll das gesegnete Fischfett dahin befördert werden, wo es bislang noch nie war: in Hotdogs und Hamburger.
Aber solche als Ganzes beeinflussbare Lebensmittel sind die Ausnahme. Das typische intakte Lebensmittel hat sehr viel mehr Schwierigkeiten, unter dem Diktat des Nutritionismus konkurrenzfähig zu bleiben. Das liegt nicht zuletzt daran, dass etwa eine Banane oder eine Avocado ihre Nährstoffeigenschaften nicht so einfach ändern kann. (Aber machen Sie sich keine Sorgen: Die Gentechniker arbeiten intensiv an dem Problem.) Zumindest derzeit können sie weder Haferkleie in eine Banane noch Omega-3-Fettsäuren in einen Pfirsich schießen. Deshalb ist die Avocado, je nach aktueller Nährstofflehre, entweder ein fettreiches Lebensmittel, von dem Sie besser die Finger lassen (altes Denken), oder ein Lebensmittel mit hohem Anteil an einfach ungesättigten Fettsäuren, das Sie in Ihren Speiseplan aufnehmen sollten (neues Denken). Das Schicksal und die Supermarktverkäufe jedes naturbelassenen Lebensmittels sind abhängig von jeder Änderung des Nährstoffwetters, wohingegen die weiterverarbeiteten Nahrungsmittel einfach eine neue Rezeptur verpasst bekommen und mit anderen Substanzen unterfüttert werden. Als zum Beispiel 2003 der Atkins-Diät-Sturm über die Lebensmittelbranche hereinbrach, wurden Brot und Nudeln ruckzuck umdesignt (weniger Kohlenhydrate; mehr Proteine), während die armen, nicht runderneuerten Kartoffeln und Möhren in der Kohlenhydrat-Schublade liegen blieben. (Die kohlenhydratarmen Verschnitte, die man bei Brot und Nudeln beobachten konnte, zwei ehedem »traditionelle Lebensmittel, die jeder kennt«, wären nie möglich gewesen, wenn 1973 nicht das Imitat-Gesetz aufgehoben worden wäre. Wer würde schon ein Spaghetti-Imitat kaufen? Genau das sind kohlenhydratarme Nudeln nämlich.)
Eine Handvoll glücklicher intakter Lebensmittel bekam vor kurzem ein nährstoffgerechtes Marketinglifting: Die
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