Lebens-Mittel
Heute wissen wir, dass mindestens zwei des aus dreizehn Wissenschaftlern bestehenden Gremiums diese Vorgehensweise kritisierten; sie trugen vor, das verfügbare Wissen würde überwiegend Schlussfolgerungen über Lebensmittel und nicht über Nährstoffe zulassen. Dem Ernährungswissenschaftler und Biochemiker T. Colin Campbell von der Cornell University zufolge, der Mitglied des Gremiums war, zeigten alle mit Menschen durchgeführten Studien über die Zusammenhänge zwischen Nahrungsfett und Krebs, dass die Gruppen mit den höheren Krebsraten nicht nur mehr Fette, sondern auch mehr tierische und weniger pflanzliche Lebensmittel zu sich nahmen. »Das bedeutete, dass diese Krebsarten genauso gut durch tierisches Protein, Nahrungscholesterin, eine andere, ausschließlich in Lebensmitteln auf Fleischbasis befindliche Substanz oder einen Mangel an Lebensmitteln auf Pflanzenbasis verursacht worden sein konnten«, schrieb Campbell Jahre später. Das Argument stieß auf taube Ohren.
Auch bei den »guten Lebensmitteln« trug die Verengung auf die Nährstoffe den Sieg davon: Die Terminologie des abschließenden Berichts unterstrich eher den Nutzen der Antioxidanzien im Gemüse als den des Gemüses an sich. Die Ernährungswissenschaftlerin Joan Gussow von der Columbia University, ebenfalls Mitglied des Gremiums, war dagegen, den Schwerpunkt auf die Nährstoffe statt auf das Nahrungsmittel als Ganzes zu legen. »Die Epidemiologie war das Einzige, auf dem wir aufbauen konnten, um weiterzukommen, und sie hatte eine wirklich wichtige Botschaft: Manche Gemüse und Zitrusfrüchte scheinen vor Krebs zu schützen. Aber diese Abschnitte des Berichts waren so geschrieben, als wäre das Vitamin C in der Zitrusfrucht oder das Beta-Carotin im Gemüse für die Wirkung verantwortlich. Ich änderte die Formulierungen immer wieder und sprach von ›Lebensmitteln, die Vitamin C enthalten‹ , und ›Lebensmitteln, die Carotine enthalten‹. Denn woher wissen Sie, ob es nicht an irgendeiner anderen Substanz in den Karotten oder dem Brokkoli liegt? Es gibt Hunderte von Carotinen. Aber die Biochemiker hatten ihre Antwort schon parat: ›Sie können keine Tests mit Brokkoli machen.‹«
So setzte sich die Nährstoff-Hypothese gegen die Nahrungsmittel-Hypothese durch. Der Rückgriff des Gremiums auf den wissenschaftlichen Reduktionismus hatte den beachtlichen Vorteil, politisch zweckmäßig (bei Fleisch und Milchprodukten) und den wissenschaftsgläubigen Liebig-Erben intellektuell sympathisch zu sein. Der endgültige Entwurf des Berichts der US-Akademie der Wissenschaften mit dem Titel Diet, Nutrition and Cancer (»Ernährungsweisen, Ernährung und Krebs«) handelte die einzelnen Nährstoffe kapitelweise ab und sprach bei seinen Empfehlungen nicht von Rindfleisch und Brokkoli, sondern von gesättigten Fetten und Antioxidanzien.
Damit trug dieser aus dem Jahr 1982 stammende Bericht dazu bei, jene offizielle neue Ernährungssprache zu kodifizieren, die wir auch heute noch sprechen. Industrie und Medien folgten dem Beispiel, und Begriffe wie mehrfach ungesättigt, Cholesterin, einfach ungesättigt, Kohlenhydrate, Ballaststoff, Polyphenole, Aminosäuren, Flavolone, Carotinoide, Antioxidanzien, Probiotika und sekundäre Pflanzenstoffe besiedelten bald einen Großteil jenes kulturellen Raums, den vorher eine »Nahrung« genannte, greifbare Substanz besetzt hatte. Das Zeitalter des Nutritionismus war gekommen.
2
Der Nutritionismus – eine Definition
Der Begriff stammt nicht von mir. Er wurde von dem australischen Wissenschaftssoziologen Gyorgy Scrinis geprägt und tauchte meinen Recherchen zufolge zum ersten Mal in einem Essay mit dem Titel »Sorry Marge« (»Tut mir leid, Marga«) auf, der 2002 in dem australischen Vierteljahresmagazin Meanjin erschien. »Sorry Marge« beschreibt die Margarine als das ultimative Produkt des Nutritionismus – je nachdem, aus welcher Richtung der Geist der Ernährungsmeinung gerade wehte, konnte es seine Identität wechseln ( Ohne Cholesterin! in dem einen Jahr, Ohne Transfette! im nächsten). Aber Scrinis hatte mehr im Visier als streichfähige Pflanzenöle. Er schlug vor, über die diversen Behauptungen über Nährstoffe im Umfeld von Butter und Margarine hinauszugehen und die der Debatte zugrundeliegende These zu überprüfen, »dass wir nur die Informationen bezüglich des Nährwertes und der chemischen Komponenten und Bedürfnisse der Nahrung und unseres Körpers verstehen und heranziehen sollten, weil
Weitere Kostenlose Bücher