Lebens-Mittel
Essen müssen also verteidigt werden – aber gegen wen oder was? Gegen die Ernährungswissenschaft auf der einen und die Lebensmittelindustrie auf der anderen Seite – und gegen die unnötigen Komplikationen im Zusammenhang mit dem Essen, die sie gemeinsam gefördert haben. Als Esser stehen wir zunehmend unter der Fuchtel eines alimentär-industriellen Komplexes aus wohlmeinenden, aber irrtumsanfälligen Wissenschaftlern einerseits und gierig jeden Schwenk im Ernährungskonsens ausnutzenden Lebensmittelvermarktern andererseits. Gemeinsam und mit entscheidender Hilfe der Behörden haben sie eine Ideologie zusammengebastelt, die ich Nutritionismus nenne und die uns unter anderem von drei schädlichen Mythen überzeugt hat: dass nicht die Nahrung, sondern der »Nährstoff« am wichtigsten ist; dass wir, weil Nährstoffe nur Wissenschaftlern sichtbar und verständlich sind, für die Entscheidung, was wir essen sollen, die Hilfe von Experten brauchen; und dass der Zweck des Essens darin besteht, ein eng gefasstes Konzept körperlicher Gesundheit zu fördern. Weil Nahrung aus dieser Perspektive vor allem eine Sache der Biologie ist, folgt daraus, dass wir möglichst »wissenschaftlich« essen sollten – nährstoffgerecht, mengengerecht und unter Anleitung von Experten.
Falls eine solche Betrachtungsweise des Essens Ihnen nicht merkwürdig vorkommt, liegt das wahrscheinlich daran, dass das Denken in Nährstoffen – das heißt der Nutritionismus – inzwischen so allgegenwärtig ist, dass es unsichtbar ist. Wir vergessen, dass die Menschen früher auch aus sehr vielen anderen Gründen als der biologischen Notwendigkeit gegessen haben. Beim Essen geht es auch um Genuss, um Geselligkeit, Familie und Spiritualität, um unsere Beziehung zur Natur und den Ausdruck unserer Identität. Seit Menschen zusammen Mahlzeiten einnehmen, hat Essen genauso viel mit der Kultur wie mit der Biologie zu tun.
Dass es beim Essen vor allem um die körperliche Gesundheit gehen sollte, ist eine relativ neue und, wie ich meine, destruktive Idee – destruktiv nicht nur für den Genuss am Essen, was schlimm genug wäre, sondern paradoxerweise auch für unsere Gesundheit. Kein Volk der Welt sorgt sich mehr um die gesundheitlichen Konsequenzen seiner Ernährungsentscheidungen als die Amerikaner – und kein Volk leidet unter mehr ernährungsabhängigen Gesundheitsproblemen. Wir werden zu einer Nation von Orthorektikern: von Menschen, die den ungesunden Zwang haben, gesund zu essen. 1
Die Wissenschaftler haben die Hypothese noch nicht getestet, aber ich wette, dass die Länge der Zeit, die Menschen sich wegen ihrer Ernährung Sorgen machen, in einem umgekehrten Verhältnis zu ihrem allgemeinen Gesundheitszustand und ihrer Zufriedenheit steht. Das ist letztendlich die Lektion, die wir aus dem »Französischen Paradox« ziehen können – das nicht von den Franzosen so genannt wird ( »Wieso Paradox?« ), sondern von amerikanischen Ernährungswissenschaftlern; sie können einfach nicht begreifen, wieso ein Volk, das sein Essen so genießt wie die Franzosen und unbekümmert jede Menge Nährstoffe konsumiert, die von Ernährungswissenschaftlern für toxisch gehalten werden, eine wesentlich niedrigere Herzkrankheitenrate hat als die US-Amerikaner mit ihrer hochgradig designten fettarmen Kost. Vielleicht sollten wir uns endlich dem »Amerikanischen Paradox« stellen: dass eine bemerkenswert ungesunde Bevölkerung sich intensiv mit der Ernährung, der Nahrung und dem Gedanken, gesund zu essen, beschäftigt.
Ich will damit nicht andeuten, dass wir alle gesund wären, wenn wir aufhören würden, uns über das Essen oder den Zustand unserer Ernährungsgesundheit Sorgen zu machen: Nur zu, her mit den Schokoriegeln! Aber es gibt tatsächlich ein paar sehr gute Gründe zur Besorgnis. Der Boom des Nutritionismus spiegelt die berechtigte Befürchtung, dass die amerikanische Kost, die auf dem besten Weg ist, auf der ganzen Welt zur maßgeblichen Ernährungsform zu werden, sich auf eine Weise verändert hat, die uns immer kränker und dicker macht. Vier der zehn Top-Ten-Todesursachen sind heute chronische Krankheiten, die gut belegte Verbindungen zur Ernährung haben: koronare Herzkrankheiten, Diabetes, Schlaganfall und Krebs. Es stimmt, dass die Spitzenposition dieser chronischen Krankheiten zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass wir nicht vorher an Infektionskrankheiten sterben, aber das ist wirklich nur die halbe Wahrheit: Auch unter Berücksichtigung der
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