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Lebensbilder I (German Edition)

Lebensbilder I (German Edition)

Titel: Lebensbilder I (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Wiederum vertritt er den Gegensatz von poetischer und historischer Wahrheit und das Entstehen aller Geschichte aus dem Mythos. Über die große poetische Leerheit, die die ganze Zeit erfülle, fallen die feinsten und melancholischesten Betrachtungen:
    »Wohl möglich, daß gegenwärtig in der Literatur Aschermittwoch ist. Wir haben den Karneval lustig, zu lustig gefeiert. Wir haben die Maskenfreiheit übertrieben, alle ausgezeichneten und Charaktermasken verjagt, dann uns selber Larven und Dominos abgerissen, um uns die bittersten Schmähungen ins Angesicht zu werfen. Und der Lauteste, der Wildeste, der Rücksichtsloseste ward allemal König: wir hätten ihn gesalbt und gekrönt, hätten wir ihn seines raschen Nachfolgers halber nicht vergessen. Aber nun ist das Fest aus. Man ist satt und müde, die Lichter verlöschen, der Tag bricht an. Die Nachwehen des Rausches; die Leere in Kopf und Herzen und endlich das Gewissen: wir haben zu arg gewirtschaftet, zu viel verschwelgt! – Die Nachwehen wollen überstanden sein, die Erinnerungen müssen erbleichen, bevor wir wieder die Alten sein können! Immermann hätte uns daher noch eine Erholungsfrist gönnen sollen, bevor er mit seinen »Epigonen« uns heimsuchte, die, bereits drei Jahre alt, selbst heute noch zu früh kommen würden. Unsere Zeit ist nicht so unpoetisch, als sie gemeinhin verschrien wird. Die Gegenwart ist sich ihrer bewußt und fordert das geschichtliche Bewußtsein auch vom Dichter. Dazu hat sie ein vollkommenes Recht, und die Poesie kann es ihr nicht versagen. Historisches Bewußtsein ist Poesie, und zwar die höchste, folglich muß in kultivierten Zeiten die Poesie einen historischen Boden zu gewinnen streben, wie ja auch die Geschichte mit dem Mythos anfängt und zur faktischen Wahrheit sich vervollkommnet. Wer weiß, ob nicht Zeiten kommen, wo Poesie und Geschichte wieder ineinanderfallen, wie es Zeiten gab, wo Poesie und Geschichte im Mythos verbunden entstanden. Immermann hat sich nicht als den Dichter erwiesen, der mit seiner Zeit sympathisiert; im Gegenteil, er gefällt sich, mit ihr im Zwiespalt zu stehen, sich als ihr Gegenteil zu betrachten. Er schildert, überzeugt und benimmt sich überall als Dichter, die Zeit schilt und schildert er überall als unpoetisch. ... Der Gegensatz von Natur und Kultur, der Zwiespalt zwischen Dichter und Stoff veranlaßte und erklärt alle Unvollkommenheiten des Buches. Der Dichter, statt sich für seinen Stoff zu begeistern, zürnte demselben, er ließ ihn roh und stellte sich nur als Dichter ihm gegenüber. Der Kritiker soll sich als Anwalt der Kunst betrachten. Bleibt die Zeit einem Dichter Anerkennung schuldig, so entspringt dem Dichter kein Recht daraus, ihr aus Vornehmheit und Bequemlichkeit das, was ein Dichter geben soll, schuldig zu bleiben. Der Kritiker aber hat das Recht, die Vornehmheit und Bequemlichkeit zu mahnen, und ich bin nicht gesonnen, Immermann etwas zu schenken.«
    Er tadelt es, daß Immermann mit einem großen Effekte seinen Roman beginne, denn dieser Effekt sei sehr wohlfeil. Auch habe es Immermann nicht nötig gehabt, schon auf der ersten Seite sein Inkognito zu lüften und fortwährend zu versichern, daß er Wahres berichte. »Kommt es darauf an, ob eine Dichtung sich ganz, zum Teile oder gar nicht ereignet hat? Die Wirklichkeit einer Dichtung kann nur illusorisch sein, und diese Illusion läßt sich bewerkstelligen, wenn man den Leser einladet, sich der Täuschung hinzugeben. Für eine wahre Geschichte sind die Charaktere zu markiert, die Situationen fast sämtlich zu sehr auf die Spitze gestellt. Der Haupteffekt der Tieckschen Novelle ist das sogenannte »Umschlagen der Charaktere«, das heißt, infolge der Begebenheiten entwickeln die Novellencharaktere eine ihrem äußern Schein entgegengesetzte innere Wahrheit. Tiecks Novellen aber sind streng dramatisch, d.h. die Charaktere treten selbständig (objektiv) auf, handeln und reden ohne Nachhilfe des Dichters, und dem Leser wird nicht vorgeschrieben, was er über sie denken soll. Ganz anders verfährt Immermann. Er täuscht den Leser durch Schilderungen und schreibt ihm dann ein Urteil vor. Immermann glaubt, sich alles erlauben zu dürfen, wenn er sich nur einigermaßen aushelfen kann.« So tadelt Schiff fast das ganze Werk, besonders das achte Buch, nur den Anhang »Inhalt einer Brieftasche« lobt er sehr. »Ein meisterhaftes Genrebild, dessen Handlung charakteristisch ist, und wo jedes Wort die Handlung charakterisiert und

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