Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)
die Zunge am Gaumen festklebte.
»Einen Freund, in Gelsenkirchen, Liebe, diesen ganzen Blödsinn eben!«, sagte Hanna nachdrücklich, und da ich anscheinend immer noch recht fragend schaute, ergänzte sie: »Was soll das denn bitte schön bringen?«
»Wie, bringen?«, flüsterte ich mir mehr selbst zu, als zu ihr zu sprechen, die Frage erstickte in meinem Hals.
Anscheinend betrachtete Hanna Gefühle als Kosten-Nutzen-Rechnung, für sie war Liebe etwas, das man mit Aufwand und Leistung zu verrechnen hatte und nur bei einer positiven Bilanz in Erwägung ziehen konnte.
»Aber ich habe gedacht … na ja, du fändest mich vielleicht auch … gut …«, stammelte ich.
»Du bist nett, aber doch nicht mehr!«, stieß der verbale Dolch in meine Ohrmuschel. Nett, die kleine Schwester von Scheiße, das war ich also? Warum konnte sie mich als Antwort nicht einfach mit einem Rasenmäher überfahren?
»Ich werde im Herbst nach Berlin gehen, ich werde ein Stipendium für die Studienstiftung kriegen und dann Jura studieren. Meine eine Schwester studiert schließlich schon Medizin und die andere BWL, da bleibt ja nur noch Jura! Mein Vater hat schon vor Jahren Kontakt zum Dekan der Uni aufgenommen. Weißt du, wie schwer es ist, so ein Stipendium zu bekommen?«, sagte Hanna, und dabei schwoll ihre Stimme fast zu einem Krächzen an.
Natürlich wusste ich nicht, wie schwer das war. Jura zu studieren, kam für mich nie infrage, meine Noten waren für solche Zukunftspläne viel zu mittelmäßig, außerdem fehlte mir einfach grundlegend der innere Antrieb für ein solches Ziel, dem ich jahrelang folgen sollte. Ich war ja schon auf dem 400-Meter-Staffellauf in der dritten Klasse nach der Hälfte der Strecke abgebogen und hatte mir ein Eis gekauft. Außerdem saß bei mir nicht Hannas Vater zu Hause. Welch großes Glück das war, erkannte ich erst jetzt, wo ich in diesen Abgrund blicken musste. Ich war zwar auch Lehrerkind, doch meine Eltern hatten mir über die Jahre beim konsequenten Versagen in allen möglichen Disziplinen zugesehen und gaben mir trotzdem nie das Gefühl, ein Verlierer zu sein. Und wenn ich nicht Tierarzt, Zahnarzt oder Diplomingenieur wurde, war das meinem Vater nur ein kurzes Grummeln wert, denn irgendwie hatten sie das, was alle Eltern in ihre Kinder haben sollten: Vertrauen.
»Da bleibt ja nur noch Jura? Berlin?«, war das Einzige, was mir noch über die Lippen kam, immerhin hatte sie nicht vor, Auftragskillerin in Nowosibirsk zu werden, aber trotzdem war das alles so weit weg von allem, was ich mir vorstellen konnte, dass die Sache sich erledigt hatte.
»Ja, Berlin. Ich habe ein Ziel, und das verfolge ich, und nichts, wirklich NICHTS wird mir dabei im Weg stehen! Und wenn ich mal richtig einen draufmachen will, dann bestimmt nicht mit dir!«, sagte Hanna und klang mittlerweile wie ein irrer Bond-Bösewicht. Sie hätte auch »Weltherrschaft« brüllen und eine Atomrakete abschießen können, eine größere Verwüstung hätte auch das nicht hinterlassen. Auch in mir nicht.
Hatte ich mich so in Hanna geirrt? Das warmherzige, blonde Mädchen war eine eiskalte Karrieristin? Unreflektiert wie ein Matschtümpel? Je länger sie sprach, desto stärker hörte ich die Stimme ihres Vaters heraus. Über Jahre war ich ihr nachgelaufen, hatte jedes bisschen Aufmerksamkeit, das sie mir schenkte, aufgesogen und wie einen Schatz gehortet, hatte mir ausgemalt, wie es sein würde, wenn dieser Moment einmal käme, aber kein Szenario (selbst das mit dem Rasenmäher) kam dem nahe, was ich gerade erlebte.
»Aber du musst das doch alles gar nicht machen, wenn du nicht willst. Du musst doch dein Leben leben, nicht dein Vater«, sagte ich, und Hannas Gesicht verdunkelte sich.
»Woher weißt du denn, was ich will? Mein Vater geht dich gar nichts an, er hat in seinem Leben auch so entschieden, und schau, wo er jetzt ist!«, schrie sie, riss die Arme hoch und stapfte auf die Tür zu.
Sie hatte recht, ich kannte Hanna nicht, ich hatte mir irgendwann ein Bild von ihr gemacht und so lange daran weitergemalt, bis keine Farbe mehr zur Wirklichkeit passte. Jetzt hatte sie vor meinen Augen den Firnis aus Schönheit abgekratzt, und darunter war nicht viel übrig geblieben. Aber irgendwo musste doch die Hanna sein, in die ich so lange verliebt war?
»Und das Gedicht, das war von Rilke, Rainer Maria Rilke, nicht Bastian Bielendorfer!«, war das Letzte, was Hanna brüllte, bevor sie die Tür hinter sich zuschlug.
Nightswimming
»Und, wie
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