Lebenslänglich Klassenfahrt: Mehr vom Lehrerkind (German Edition)
fast durch meine Jeans, und ich spürte, wie jede Schweißpore an meinem Körper geflutet wurde.
»Was jetzt?«, fragte ich laut, woraufhin Jauch mitleidig einschob: »Wir haben hier Fachpersonal für so was.«
»Gut, ich rufe meinen Vater an«, sagte ich und ahnte schon, dass das ein ziemlich peinliches Erlebnis würde. Eine Frage im 8000-Euro-Bereich konnte in seinen Augen auch ein Sack Kartoffeln richtig beantworten, sie war es nicht würdig, ihm gestellt zu werden. Meistens schaltete er den Fernseher bis zur 32000-Euro-Frage stumm, um das hilflose Raten mancher Kandidaten nicht mitanhören zu müssen.
Und jetzt sein eigener Sohn. Bei 8000 Euro und einer Geschichtsfrage! Mehr Schande konnte ich nicht über unsere Familie bringen, selbst wenn ich mich morgen mit einem Tintenfisch verloben und eine Karriere als Schlagermusiker namens Ronny Rubin antreten würde. Wochenlang hatte er mich vorbereitet, abgefragt, hatte meine Freundin beschworen, die seitdem ein wandelndes Lager an Trivial-Pursuit-Fragekarten war.
Das Telefon tutete und tutete. Es fühlte sich wie eine Unendlichkeit an. Bestimmt saß mein Vater zu Hause in seinem Arbeitszimmer und starrte auf das Telefon. So war es zumindest verabredet worden, und seinem angeborenen preußischen Pflichtbewusstsein verpflichtet, würde er das auch befolgen.
Doch das hohle Tuten setzte sich einfach fort, war das nun schon das vierte Klingeln? Wo war er? Unvorstellbar, dass mein Vater in so einer Situation auf die Toilette gegangen war, er hatte, wie ich ihn kannte, bestimmt jedes körperliche Bedürfnis eingestellt. War er vor Aufregung ohnmächtig geworden? Ich sah schon meine Mutter mit Riechsalz vor ihm und dem schellenden Telefon knien.
»Der angerufene Teilnehmer antwortet nicht, falls Sie eine Rückrufbitte per SMS senden wollen …«, sprach die mechanische Stimme seiner Mailbox. Die Mailbox? Das war eine Premiere in zehn Jahren »Wer wird Millionär«, noch nie war ein Telefonjoker nicht ans Telefon gegangen. War das jetzt die Rache für dreizehn Jahre, in denen er mich im Pädagogen-Passat zur Schule fahren musste? Für mein versiebtes Lehramtsstudium? Oder einfach nur ein böser Scherz?
Mein Gesichtsausdruck zerbröckelte, und ich spürte, wie mein Gesicht unter der Schminke rot anlief. Wahrscheinlich glühte ich schlimmer als E.T.s Finger. Jauch versuchte es noch einmal, mittlerweile verging die Zeit zäh wie Honig, jede Sekunde donnerte in meinem Kopf, und als das Tuten erneut einsetzte, war ich mir sicher, wieder den Anrufbeantworter seinen Monolog aufsagen zu hören.
»Bielendorfer?«, war mein Vater dann doch nasal über die Lautsprecher des Studios zu hören, und mir entfuhr eine Mischung aus Seufzen und verzweifeltem Lachen. Er klang verschnupft, auf Günther Jauchs Aussage hin, man hätte ihn vor einer Minute gut gebrauchen können, fragte er nur trocken: »Warum?«, was den Zuschauern erheblich mehr Spaß machte als mir, da ich gerade dabei war, mich körperlich zu zersetzen.
»WO WARST DU?«, wollte ich brüllen, doch eine familiäre Fehde in einer Samstagabendshow vom Zaun zu brechen war sicher keine gute Idee.
Nach der Show erklärte mir mein Vater, warum er mir die zwei härtesten Minuten meines Lebens beschert hatte. Um die Spannung zu steigern, sei er darum gebeten worden, im Falle eines Anrufs erst nach dem dritten Schellen das Gespräch anzunehmen. Als das Handy dann allerdings wahrhaftig klingelte, geriet mein Vater in Panik und rannte mit dem klingelnden Ding hektisch durch unser Haus. Das Handy hatte einen durchgehenden Klingelton, und weil das Geräusch nicht unterbrochen wurde, wusste er auch nicht, wann genau es ein drittes Mal geklingelt haben sollte, und ging deshalb stoisch einfach nicht ran.
Höflichkeiten wurden ausgetauscht, Jauch führte in die Situation ein, was mein Vater alles mit einem Grummeln und einem weiterhin genervt klingenden »Aha« kommentierte. Gesprächig wie ein Büschel Wüstengras. Es war so schlimm, dass ich nach der Ausstrahlung Pflegeelternschaften von Zuschauern angeboten bekam, die Mitleid mit mir gehabt hatten.
Im Gegensatz zum Publikum wusste ich, dass mein Vater weder ein verbohrter spaßfreier Stoffel noch ein unfreundlicher Arsch war, er befand sich nur in heller Aufregung, und das äußerte sich leider in massiver Einsilbigkeit.
Als ich dann die Frage vorlas, konnte ich schon an seinem verzweifelten Stöhnen hören, dass er gerade stark an meiner Zurechnungsfähigkeit zweifelte. Für so
Weitere Kostenlose Bücher