Lebenslust: Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult (German Edition)
Herzinfarkten. Und die jammerten alle!! Jedem tat es irgendwo weh, jeder konnte irgendetwas nicht oder war ständig müde. Was hatten die erwartet? Anstatt glücklich zu sein, diese Operation überstanden zu haben, bedauerten die nur sich selbst. Oder mich: ›Was, so jung und schon herzkrank? Ooch, Sie Arme!‹ In ihrer Vorstellung von Bypass waren sie eher in einen Jungbrunnen gefallen, der sie nach der Narkose 50 Jahre jünger, bildhübsch und supersportlich wieder auferstehen ließ. Beim nächsten Mal gehe ich in eine Kinderkurklinik, da ist es lustiger.
Nun ist es nicht so, dass ich nie jammere, und doch ist da in mir diese glucksende Lebensfreude und dieses wunderbare Genussgefühl, das alles erleben zu dürfen. Die Erwartungshaltung der Menschen an die Ärzte und an die Medizin lässt mich oft den Kopf schütteln. Manchmal glaube ich fast, in Deutschland darf man nicht mehr sterben, ohne nicht mindestens einmal reanimiert zu werden. Behinderte Kinder zu bekommen ist unnormal, denn die sind ja nicht ›Hauptsache gesund‹. Doch eigentlich empfinde ich mich als viel glücklicher und zufriedener als die meisten tatsächlich körperlich Gesunden.
Danke, dass Sie versuchen, die Menschen aufzurütteln, und dass Sie mir heute das Gefühl gegeben haben, dass ich okay bin, so wie ich bin …«
Mich hat diese E-Mail in der Auffassung bestärkt, dass die Gesundheitsreligion nicht nur für Gesunde, sondern auch für Kranke ein scheußlicher Aberglaube ist. Diese Frau war dann Gast in einer Gesundheitssendung des deutschen Fernsehens, die mein Buch zum Thema hatte. Da bekannte sie, dass ihr die Ärzte dringend von Kindern abgeraten hätten, das sei unverantwortlich, wenn man so krank sei. Man sah sie dann in einem Einspielfilm mit ihren Kindern herumtollen. Dieser Fall machte deutlich, wie sehr die Gesundheitsreligion bereits das Menschenbild der Gesellschaft verändert hat. Der gesunde Mensch und der Mensch, der noch gesund werden kann, ist der eigentliche Mensch. Wer nicht mehr gesund werden kann, wer unheilbar krank oder behindert ist, ist ein Mensch zweiter oder dritter Klasse, dem man den Eingang zum Leben fürsorglich verwehrt oder den Ausgang mitfühlend erleichtert. Im Übrigen war das bei aller Ernsthaftigkeit insgesamt wohl die lustigste Gesundheitssendung im deutschen Fernsehen mit einer im Vergleich zu sonst doppelt so hohen Einschaltquote, und das Ganze war nur möglich wegen des Redakteurs, der die Verantwortung hatte für die Sendung – denn das war seine letzte Sendung vor der Rente.
Auch bei Vorträgen, die ich inzwischen zum Thema des Buches vor Wirtschaftsvertretern, Gesundheitspolitikern, bei Ärztekongressen und anderen Gelegenheiten gehalten habe, wurden die provozierenden Thesen durchaus mit großer Aufmerksamkeit aufgenommen. Manche Journalisten, die für die Gesundheitsseiten ihrer Journale zuständig sind, bedankten sich herzlich, dass da mal auf andere Weise über diese Dinge geredet würde als in den üblichen salbungsvollen Gesundheitsergüssen. Das Thema scheint einfach reif zu sein für eine neue Sicht, die aus den bisherigen Sackgassen herausführen könnte.
Vor allem aber führt die Gesundheitsreligion die riesigen Massen ihrer Gläubigen in eine persönliche Sackgasse. Wer wie die Gesundheitsreligion in Behinderung, Krankheit, Schmerzen, Leiden, Alter und Sterben nur Defizite eines Lebens sehen kann, dem blieben, so habe ich ausgerechnet, im Durchschnitt nur noch 9,82 Prozent der Lebenszeit als lebenslustfähige Zone – und in der Zeit muss man ja auch noch die Steuererklärung machen. Lebenskunst kann also nur darin bestehen, auch in diesen unvermeidlichen Grenzsituationen menschlicher Existenz, wie der Philosoph Karl Jaspers sie genannt hat, Quellen des Glücks eines Lebens zu finden. So will dieses Buch nicht bloß eine emanzipatorische Streitschrift gegen die totalitären Zumutungen der Gesundheitsreligion, sondern vor allem eine Anleitung zum glücklichen Leben sein.
Das Buch gibt so eine Antwort auf die Frage: »Was muss man tun, um Spaß oder sogar Lust am Leben zu haben?« Gewiss, man kann es mit dem Spaß übertreiben. Doch selbst bei so mancher spaßkritischen Sonntagsrede ist die herzliche Freude im Gesicht des Festredners unübersehbar, wenn das anwesende Publikum die lustvolle Beschimpfung des abwesenden Zeitgeistes mit rauschendem Beifall bedenkt. Der lustvolle Angriff auf die Lust ist höchste Form des Lustgewinns.
Dennoch ist die Verwendung des Wortes
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