Lebens(t)raum: Eine Sommergeschichte (German Edition)
gegangen bin und den ich heute unbedingt beschreiten will. Ich hoffe, ich werde nicht zu aufgeregt sein. Vielleicht wird es mich erregen. Ich werde Dir in die Augen sehen, den Moment auskosten … Doch ebenso, wie ich den Augenblick herbeisehne, fürchte ich mich davor, dass Deine Berührung mich verbrennt, mich unumkehrbar verändert und wie ein heißes Eisen dauerhaft brandmarkt. Ich bin mir sicher, dass unsere Begegnung auch Dich verändern wird. Dieser Tag kann an keinem von uns spurlos vorbeigehen. Etwas von mir wird in Dir zurückbleiben. Unser Schicksal wird miteinander verflochten.
Unwillig schüttle ich den Kopf, versuche, diese Gedanken zu verdrängen, und konzentriere mich ganz auf meine Schritte. Auf jeden einzelnen, der heute vor mir liegt.
Ich wuchte die schweren Stiefel mit ihren Stahlkappen voran, Schritt für Schritt der Europäischen Route für Industriekultur folgend, die Ferropolisstraße entlang. Sie sind neu und ihr Gewicht ist noch ungewohnt. Meinem Gang nehmen sie die sonstige Eleganz, lassen mich aber cool und zu allem entschlossen wirken. Der äußere Eindruck täuscht. Ist nur Fassade, ohne solides Mauerwerk dahinter. Tatsächlich fühle ich mich, als würde ich einen provokanten Tanz auf einem schlummernden Vulkan wagen. Seinen Ausbruch sehne ich herbei, tanze mit Absicht dort, wo die Kruste am dünnsten ist und habe doch Angst vor den Folgen der gewaltigen Eruption. Wie nervös ich bin, kann man an meiner rechten Hand sehen, die unermüdlich einen gelben Anti-Stress-Ball mit einem Smiley darauf knetet, welchen ich mir am Vortag in einem Spielwarengeschäft gekauft habe.
Ein Vibrieren in der rechten Hosentasche reißt mich aus meinen Gedanken. Ich bleibe stehen, lasse den Ball in die andere Hand wechseln, ziehe mein Handy hervor und lese die SMS, die gerade hereinkam.
Bist Du schon da? , lautet ihr kurzer und knapper Inhalt. Kein Kuss?
Eilig tippen meine Finger zurück: Noch nicht ganz. Wartest Du schon auf mich?
Ich lasse meinen Blick schweifen, über den anschwellenden Fluss der zum Konzert strömenden Menschen hinweg, halte in der Masse vorbeiziehender Gesichter Ausschau nach Deinem. Die Stunden, die noch vergehen müssen, kommen mir endlos vor. Auf einmal erscheint mir Einsteins Relativitätstheorie plausibel: Fühlbar dehnt sich die Zeit.
Bevor ich das Handy zurück in die Tasche stecke, stelle ich die Musik noch etwas lauter, zupfe mein Oberteil zurecht und setze mich dann wieder in Bewegung. Im Vorbeigehen mustere ich die kleinen, am Wegrand rastenden Grüppchen, die Schwärme bunter Paradiesvögel, deren haarsprayverklebtes Federkleid dem aufkommenden Wind standhält, passiere sie langsam.
Zu beiden Seiten erstreckt sich der Gremminer See, der die Halbinsel Ferropolis umschließt. Diese erhebt sich aus der ehemaligen Wüste, die der Tagebau Golpa Nord hinterlassen hat, bevor man sie künstlich flutete. Nun, da keine Braunkohle mehr aus dem Boden geschlagen wird, fördert man den Raubbau am Geldbeutel angelockter Touristen. Schon von weitem sind die auf der Halbinsel wohnenden Stahlriesen in Sicht, zwischen denen sich die Bühnenaufbauten und Getränkestände drängen; ein imposanter Anblick. Während ich mich von der anonymen Menge weiter in Richtung des Eingangs treiben lasse, zieht der abseits stehende, gigantische Schaufelradbagger mit dem Spitznamen Big Wheel meinen Blick in seinen Bann. Dort wollen wir uns treffen.
Du hast mir gesagt, wann und wo Du mich haben willst; die Karte musste ich mir selbst besorgen. Zum Sound meiner Lieblingsband vor dieser fantastischen Kulisse, die Du eigens dafür ausgesucht hast, werde ich den letzten Rest meiner Unschuld verlieren. Seit Tagen kann ich an nichts anderes denken. Ich fiebere, ebenso wie Du, diesem Moment entgegen, bereite mich innerlich darauf vor, warte.
Meine Hände wandern zum Nacken, führen eine automatische, seit Jahren gewohnte Bewegung aus, das Zusammenraffen der langen Haare, um sie danach mit Schwung zurück auf den Rücken zu befördern. Doch natürlich fallen die nur halblangen Strähnen sofort wieder zurück, streifen provozierend über meine nackten Schultern. Erst gestern habe ich mir mein langes, schwarzes Haar abgeschnitten, weinend und doch begierig, Dein Bild von mir zu erfüllen. Ich habe die verbliebenen Haare erst gebleicht, dann gefärbt und mir am Ende diesen mädchenhaften Pony geschnitten, der nun lasziv vor meine Augen fällt. Ich würde einfach alles tun, was Du von mir verlangst, um Dich zu
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