Legenden der Traumzeit Roman
Hand ihrer Freundin hielt und dem Lauf des Mondes über den Himmel folgte. Ihr Herz hämmerte, und sie war nach dem langen Weg und dem Schreck, den Bindi ihr eingejagt hatte, noch immer außer Atem. Sie hatte so viele Jahre mit Alice gemeinsam verbracht, sie hatten sich gezankt, aber auch gefeiert wie ein altes Ehepaar, doch auch in den finstersten Zeiten hatte ihre gegenseitige Liebe und ihr Respekt nie nachgelassen. Sie hatten wie eine Person gelebt und gearbeitet, und es war ungerecht von Alice, einfach so zu verschwinden – und sie in dieser schrecklichen Stille, in dieser Leere alleinzulassen.
Doch als der Mond tiefer sank und Nells Tränen versiegten, glaubte sie den schwachen Klang von Gesängen in der nächtlichen Brise zu vernehmen. Sie waren schön, und ein großer Friede senkte sich über sie, denn sie erkannte, dass sie heimgerufen wurde. »Jack ist bei dir, nicht wahr, Alice? Kannst du meinen Billy sehen?«
»Ich bin hier, Liebling.« Die leise Stimme kam aus der Dunkelheit. Er tauchte in einen hellen, vom Mond beleuchteten Fleck ein, sein dunkles Haar fiel ihm in die Augen, und er setzte das gemächliche, reizende Lächeln auf, das sie nie vergessen hatte. »Du hast doch nicht geglaubt, ich würde dich allein lassen, Nell, oder?«
»Billy!«, seufzte sie, erhob sich aus dem Sessel und ergriff seine ausgestreckten Hände.
»Komm, Nell! Es wird Zeit.«
Sie warf einen Blick über ihre Schulter auf Moonrakers, wo ihre Familie schlief.
»Wir werden gemeinsam auf sie aufpassen«, sagte Billy undzog sie an sich, »weil ich weiß, dass du die kleine Ruby nicht aus den Augen lassen willst.«
Beim Blick in seine Augen spürte sie die reinste Freude, und als er sie in das blendende Leuchten führte, folgte sie ihm mit dem geschmeidigen Schritt einer jungen, verliebten Frau.
Erster Teil
Auf der Heimreise
Eins
Auf dem Track, Oktober 1849
R uby zog den Kragen ihres Ölmantels bis ans Kinn und schauderte, als die Stute durch den Schlamm platschte. Sehr romantisch war es nicht, ein Leben als Ehefrau auf diese Weise zu beginnen, und obwohl sie die Wärme ihrer Großmutter Nell zu spüren glaubte, hatte sie nicht damit gerechnet, so niedergeschlagen zu sein.
Die letzte Dürreperiode war zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt zu Ende gegangen, denn es lagen noch viele Meilen vor ihnen, bevor sie das Tal hinter den Blue Mountains erreichen würden. Der Regen, der unentwegt auf Rubys Hut trommelte, bog den Rand nach unten, und das eisige Wasser rann ihr in den Nacken und durchnässte sie bis auf die Haut. Das Trommeln des Regens war das Einzige, was zu hören war, als die vier Ochsen durch das Tal trotteten, denn es überdeckte sogar das Dröhnen des Wasserfalls ganz in der Nähe. Reden war unmöglich. Ohnehin hatten sie und die anderen fünf genug damit zu tun, die Schafe und Pferde zusammenzuhalten und zu verhindern, dass der überladene Karren im Schlamm stecken blieb.
Ruby hatte James Tyler ein Jahr zuvor kennengelernt, und für beide war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Er war auf Arbeitssuche nach Moonrakers gekommen und hatte eine Energie und Abenteuerlust mitgebracht, die ihrer eigenen glichen. Er hatte sie mit seinem Charme, seinem guten Aussehen und seinem schalkhaften Lächeln schier umgeworfen, und als er den Wunsch geäußert hatte, der von Blaxland, Lawson und Wentworth neu entdeckten Route durch die Blue Mountains zu den endlosen, für die Schafzucht bestens geeigneten Weiden und reichlich vorhandenem Wasser zu folgen, hatte sie gewusst, dass sie mit ihm gehen musste. Ihre kindliche Leidenschaft für Finn war nicht mehr als Schwärmerei gewesen, und James – der freundliche, friedfertige James – war genau der Mann, auf den sie gewartet hatte. Als er vor sechs Monaten um ihre Hand anhielt und ihr den Ring überstreifte – als er sie zum ersten Mal küsste und im Mondschein fest an sich drückte –, hegte sie keinen Zweifel mehr, dass sie mit ihm den Rest ihres Lebens verbringen wollte.
Ihr Vater Niall hatte sich zunächst geweigert, die Heirat seiner Tochter mit einem englischen Protestanten gutzuheißen, waren doch in der stets wachsenden irischen Gemeinde durchaus gute katholische Ehemänner zu finden. Noch mehr störte ihn die Absicht des jungen Paares, in die Wildnis zu ziehen, aus der Schafzüchter immer häufiger von regelmäßigen Überfällen durch die Eingeborenen berichteten. Am Ende hatte er vor ihrer unbeirrbaren Hartnäckigkeit kapituliert, mit der sie in die
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