Legenden der Traumzeit Roman
dass ich dich nicht liebe, weil ich dich eine alberne, alte Närrin nenne.« Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter und zwang sich zu lächeln. »Aber wag bloß nicht, jemandem zu erzählen, dass ich das gesagt habe! Sonst erzähle ich denen, wie du zusammengebrochen bist, als Henry Carlton starb.«
Alice wurde rot und zog ihre Hand mit einem Ruck weg. »Bin ich nicht.«
Nell nickte zufrieden, nachdem Alice wieder ihr gewohntes schroffes Wesen zeigte. »Ich habe dich gehört«, sagte sie triumphierend. »Hast wie ein liebeskrankes Mädchen in deine Kissen geschluchzt.«
»Obwohl du schändlich mit ihm geflirtet hast, war Henry mein Kavalier, nicht deiner. Um ihn zu trauern war mein gutes Recht.« Alice funkelte Nell an, hielt die zornige Miene jedoch nicht lange durch und begann zu lächeln. »Oh, aber er hat gut ausgesehen, was?«
Nell grinste. »Stimmt. Und klug war er auch. Ohne ihn wären wir nicht halb so gut zurechtgekommen.«
Sie verfielen in ein angenehmes Schweigen, während die Geräusche der Party in den Hintergrund traten und ihre Erinnerungen übermächtig wurden. Henry Carlton hatte neue Wärme in ihr Leben gebracht, nachdem sie verwitwet waren, und seine Abwesenheit machte sich noch immer deutlich bemerkbar. Seine Freundschaft und Anleitung war von unschätzbarem Wert gewesen, seine Lieferung von Zuchtschafen aus Südafrika hatte die Qualität ihres Merinobestandes gesichert nach der schrecklichen Dürre, die andere in die Knie gezwungen hatte.
»Manchmal denke ich, wir haben zu lange gelebt«, sagte Alice seufzend.
»Dummes Zeug!«, platzte Nell heraus. »Wie kann jemand zu lange leben?«
»Wir sind fast die Letzten unserer Generation, Nell, und jedes Jahr bringt neue Todesnachrichten. Das ist irgendwie ungerecht.«
Nell hatte die Nase voll. Sie umklammerte die Stuhllehnen und hievte sich mühsam in den Stand. »Ich jedenfalls hab nicht vor, den verdammten Löffel abzugeben«, fuhr sie Alice an. »Du kannst versauern, wenn du willst, aber solange ich noch Luft zumAtmen habe, werde ich mich amüsieren.« Sie klopfte auf den Tisch, um auf sich aufmerksam zu machen. »Spielt Musik«, befahl sie, »ich will tanzen.«
»Mach dich nicht lächerlich, Mutter!«, bellte Walter. »Das gehört sich nicht für eine Frau in deinem Alter. Außerdem hält dein Herz das nicht mehr aus.«
Sie betrachtete ihren Sohn. Er lief Gefahr, sich aufzublasen, und das Bedürfnis, ihn zurechtzuweisen, war unwiderstehlich. »Ob es sich gehört oder nicht, die alte Pumpe hier schlägt immer noch. Ein bisschen Übung wird ihr guttun – und dir würde es auch nicht schaden«, fuhr sie ihn an und nahm seinen Leibesumfang in Augenschein. Sie wandte sich an Nialls Neffen, einen hübschen, ungefähr fünfzehnjährigen Jungen mit grünen Augen und pechschwarzen Locken. »Wie wär’s, Finn?«
Finnbar Cleary ergriff Nells Hand, und seine Augen strahlten fröhlich, als er sich formvollendet verbeugte. »Es wäre mir ein Vergnügen, mit dem Geburtstagskind zu tanzen, aber sicher. Und ein Walzer scheint mir angemessen zu sein für die Gelegenheit. Der Tanz ist in Europa der letzte Schrei.« Die anderen nahmen rasch Fiedeln, Dudelsack und die große tellerförmige Trommel zur Hand, die man mit einem Stock in Gestalt eines Knochens schlug, um den Rhythmus vorzugeben.
»Mutter! Ich verbiete es!« Walters Gesicht war puterrot.
»Du kannst verbieten, was du willst. Ich bin alt genug und kann tun, was mir gefällt.« Nell zwinkerte Finn zu und nahm mit ihm die Tanzhaltung ein. »Beachte ihn gar nicht!«, flüsterte sie. »Walter war schon immer ein Wichtigtuer.«
Seit Jahren hatte sie nicht mehr getanzt, und das Gefühl eines starken Arms um sich, einer warmen Hand, die sich um die Finger schließt, ließ sie die Unannehmlichkeiten des Alters vergessen, und während er sie langsam führte, atmete sie den Geruch seines frisch gewaschenen Hemdes ein und fühlte sich wieder jung.
Die Fiedeln spielten ihre beschwingte Melodie zu den beklemmenden Tönen des Dudelsacks, während die Trommel Füße und Herz anregte. Am Ende des Tanzes war Nell außer Atem, und ihr war schwindelig. Sie erlaubte Finn, sie zu ihrem Platz zu bringen, und ließ sich auf das Polster fallen. »Das hat Spaß gemacht«, keuchte sie, fächerte ihrem erhitzten Gesicht Luft zu und atmete schwer.
»Das Vergnügen war ganz meinerseits.« Er vollführte eine Verbeugung, und eine dunkle Locke fiel über seine Augen. Er strich sie zurück, zwinkerte ihr zu und
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