Lehmann, Sebastian
Tiergarten wohnt man nicht. Niemand, den ich kenne, wohnt in Tiergarten, also Freunde jetzt. Der Drogi an der U-Bahn-Haltestelle, die Prostituierteauf dem Parkplatz nebenan oder die ältere Frau aus dem Hinterhaus, die mich immer »junger Mann« nennt, wohnen hier natürlich schon.
Wie es der Zufall will, treibe ich mich heute Abend aber wieder in Neukölln rum. Na gut, mit Zufall hat das nicht viel zu tun. Ich bin ja hingefahren, bei vollem Bewusstsein und mit der Absicht, mir nicht einzugestehen, nach Christina Aguilera Ausschau zu halten.
Allerdings habe ich keine Ahnung, wie ich sie wiederfinden soll. Immerhin hat sie mir erzählt, dass sie bei Universal arbeitet, wenn das kein Witz war. Aber warum sollte das ein Witz sein? Es muss ja nicht jeder mit über dreißig immer noch nicht wissen, was er mit seinem Leben anfangen soll, und kann durchaus schon mit einundzwanzig bei einer großen Plattenfirma im Vorstand sitzen. Ich könnte also morgen bei Universal anrufen: »Hallo, mein Name ist Marky Mark, ich würde gern mit Christina Aguilera sprechen.« Wenn ich Pech habe, verbinden sie mich noch mit der echten Christina A…
Ich irre durch Neukölln und versuche, den Kellerclub wiederzufinden, aber Christina wird wohl kaum schon wieder an den schicksalhaften Ort unserer Begegnung zurückgekehrt sein. Wir sind hier schließlich nicht in einer billigen Hollywood-Liebeskomödie. Eher kommt mir mein Leben manchmal wie ein moderner Adoleszenzroman vor, in dem nichts passiert.
Und wäre das mit uns nicht auch ziemlich kompliziert bei diesem Altersunterschied? Christina ist in den neunziger Jahren geboren, während ich in diesem Jahrzehnt popkulturell das Laufen gelernt habe. Die Neunziger sind meine Zeit. Die Welt war damals einfach noch besser undklarer strukturiert: Es gab kein Internet, keinen Terrorismus und keine Rihanna (was ja in etwa das Gleiche ist). Und Kommunikationsdesign studieren hieß noch Briefträger bei der Post werden.
Langsam verliere ich vollständig die Orientierung. Nicht nur die Menschen sehen in Neukölln alle gleich aus, auch die Bars und Cafés sind kaum zu unterscheiden, mit offenen Backsteinwänden an der Rückseite, wackligen Tischchen und kaputten Sperrmüllsesseln. Darauf hat es sich allerlei Hipstervolk mit alkoholischen und koffeinhaltigen Mischgetränken bequem gemacht. Wenn sie genug getrunken haben, torkeln sie aufgekratzt zur nächsten, identischen Bar, trinken noch mehr von dem politisch korrekten Mateteegetränk, bis sie am nächsten Morgen zurück nach Kopenhagen fliegen und drei Wochen nicht schlafen können. Kopenhagen muss an den Wochenenden immer komplett leer sein.
Ich laufe vorbei an Stoffbeutelshops und Getränkeshops, die auch Stoffbeutel verkaufen, und Galerien, in denen Stoffbeutel ausgestellt werden. Vor einem Schaufenster bleibe ich stehen und lese die Sprüche auf den fein säuberlich drapierten Beuteln. Auf einem steht: »Benimm dich deinem Alter entsprechend.« Auf einem anderen: »Nur weil wir mal einen Wodka-Shot zusammen getrunken haben, heißt das noch lange nicht, dass ich dich cool finde.«
Ich wende mich ab und laufe weiter, stoße aber mit einem der überall herumtorkelnden Hipster zusammen. Wir sehen uns erschrocken an, und zuerst erkenne ich mein Gegenüber gar nicht, doch dann setzt er sich seine riesige Brille auf die Nase, und mir wird klar, wer vor mit steht: Es ist Dr. Alban.
»Berlin ist ein Dorf«, sage ich.
»Das sagen die Neuzugezogenen gern, wenn sie davon ablenken wollen, dass sie diese anonyme, manchmal furchtbar abweisende Großstadt ziemlich mitnimmt«, sagt Dr. Alban. »Berlin ist kein Dorf.« Er betrachtet mich wieder sehr ernst und auch ein wenig missbilligend.
Ich habe tatsächlich Christinas Freund oder Beschützer oder was auch immer getroffen – zufällig. Und ganz zufällig wird er mir verraten, wie und wo ich Christina wiedersehen kann.
»Sollen wir nicht vielleicht irgendwo was trinken gehen? Das ist doch ein lustiger Zufall.«
Dr. Alban findet unser Treffen augenscheinlich gar nicht witzig, sein Gesichtsausdruck changiert kaum merklich zwischen gelangweilt und genervt.
»Wo sollen wir denn hingehen? Hier gibt’s ja nichts.«
Wir stehen direkt vor einer dieser gemütlichen Sperrmüllmöbel-Bars, aber Dr. Alban schüttelt sofort den Kopf, bevor ich auch nur vorschlagen kann, die nächstbeste Kneipe aufzusuchen.
»Da gibt es höchstens diese eine Bar ein paar Straßen weiter, die keinen Namen trägt und in der nur
Weitere Kostenlose Bücher