Lehmann, Sebastian
Außer natürlich, dass die älteren unter ihnen ihre Kinder mitgebracht haben und glaubhaft Sonnenbrillen tragen. In Clubs mit Sonnenschutz vor den Augen aufzutauchen, ist inzwischen ja eher verpönt. Aber hier, an einem sonnigen und warmen Frühlingsmittag, darf man natürlich ungestraft seiner Ray-Ban-Leidenschaft frönen.
»Na, warst du wieder das ganze Wochenende feiern?«, stichelt Kurt. Manchmal habe ich das Gefühl, wir beide kennenuns schon etwas zu gut, wissen genauestens über die Schwächen des anderen Bescheid und haben überhaupt keine Skrupel mehr, andauernd auf ihnen rumzureiten.
»Klar. Ich war in Neukölln in einem illegalen Kellerclub und in einer von diesen Bars mit Sperrmüllmöbeln.« Ich überlege noch, ob ich ihm von Christina Aguilera und Dr. Alban erzählen soll, aber Kurt regt sich schon wieder auf.
»Diese ästhetische Eintönigkeit«, sagt er etwas zu laut und weicht einem etwa vierjährigen Kind aus, das zu seinem niedlichen Ringel-T-Shirt eine dunkle Ray-Ban-Sonnenbrille trägt und durch das Gedränge stolpert. »Es wäre mal total neu und abgefahren, in Berlin eine Bar ausschließlich mit modernen, nagelneuen Möbeln einzurichten.«
Seit Kurt schwanger ist, hat er natürlich dem Nachtleben vollkommen abgeschworen, und ich kann es ihm eigentlich nicht verübeln. Wenn es zu Hause gemütlich ist, mit Freundin und großem Wohnzimmer, warum sollte man sich da noch in verrauchte Keller zwängen, wo ohnehin alle mindestens zehn Jahre jünger sind, das Bier warm und abgestanden und vor allem die Musik schrecklich? Aber bei mir zu Hause ist es eben nicht besonders gemütlich.
Wir bleiben vor einem Stand mit Stoffbeuteln stehen, auf die ausnahmslos Berliner Sehenswürdigkeiten gedruckt sind. Kurt zeigt schockiert auf einen Mini-Stoffbeutel, auf dem ein Fernsehturm prangt.
»Der ist für Kinder«, sagt die Verkäuferin. Neben ihr steht natürlich ein Kind, seinen distanzierten Blick hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen. Auf dem winzigen Beutel steht: »Willst du nicht auch ein niedliches Kind? Du kommst doch langsam in das Alter.« Ich zerre Kurt schnellzum nächsten Stand. Dort werden mit Berlinmotiven bedruckte T-Shirts und Kapuzenpullis angeboten. Am Stand daneben selbstgebastelte Fernsehtürme aus Pappe und Poster mit dem Spruch »Arm, aber sexy«. Dazwischen überall sonnenbebrillte Kinder und ihre coolen, junggebliebenen Eltern.
»Weißt du, was die jetzt wieder in den Clubs spielen?«, frage ich Kurt, als wir angewidert vor der nächsten Auslage mit Berlinutensilien haltmachen. »Neunziger Jahre. Aber nur die schlechten Sachen: Backstreet Boys, DJ Bobo, Eurodance.«
»Ich fand ja Scooter immer eine der am meisten unterschätzten Bands«, antwortet er. »Hast du dir zum Beispiel mal den Text von ›How Much Is the Fish‹ genau angehört? ›I want you back for the rhythm attack/Coming down on the floor like a maniac … I want you back, so clean up the dish/By the way, how much is the fish? Argh! Resurrection!‹ Das ist doch Expressionismus der guten alten Georg-Heym-Schule.«
Ich starre Kurt an. Er kann tatsächlich den Text von »How Much Is the Fish« auswendig? Manchmal überrascht er mich doch.
Wir machen an einem Stand halt, an dem es endlich Babyklamotten gibt. Allerdings sind auch auf die Strampler Fernsehtürme und Brandenburger Tore gedruckt.
»Man hat das Gefühl, die gefeierte Berliner Kreativszene erschöpft sich im Bedrucken von American-Apparel-Klamotten.« Kurt wirkt persönlich beleidigt. Er ist ja Graphikdesigner und weiß, wovon er spricht. Auch wenn er meistens nur für Nagelstudios und Solarien billige Werbemotive entwirft und nicht für irgendwelche hippen Bands oder DotCom-FirmenKampagnen kreiert. Kreativszene hin oder her, Kurt zählt sich trotzdem mit einigem Stolz dazu.
Nach weiteren zehn Minuten geben wir auf und finden uns wieder am Eingang bei den Fruchtsaftausschenkern ein. Was ist bloß aus Flohmärkten geworden? Wo sind all die älteren Herren hin, die verzaubert die Auslagen von Ständen mit historischen Handwerksgeräten aus dem 19. Jahrhundert durchstöbern? Oder die seltsamen Verkäufer mit lila Plastikgeschirr aus den siebziger Jahren? Hätte nicht gedacht, dass ich die mal vermissen würde.
»Wie ist es denn inzwischen so im Nachtleben, abgesehen vom Neunziger-Jahre-Expressionismus?«, fragt Kurt, nachdem ich mir einen Passionsfrucht-Ingwer-Saft gekauft habe. Dabei scheint er fast ein bisschen wehmütig, aber vielleicht bilde ich
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