Lehmann, Sebastian
Tag der Entscheidungen nennt? Das ist eben genau so wie in einem guten alten Actionfilm: Da gibt es Pathos, krasse Sprüche, schöne Frauen, böse Bösewichte und lebensbedrohliche Entscheidungen, die getroffen werden müssen.
Und jetzt, wo ich das alles erledigt habe, kann es ja endlich losgehen.
21
Larger than Life
Die Lautsprecherdurchsage wiederholt sich scheppernd: »Aufgrund von Gleisbauarbeiten besteht auf der Linie U7 nach Rudow Schienenersatzverkehr mit Bussen. Wir entschuldigen uns für die entstandenen Unannehmlichkeiten.«
Wir nehmen unsere Taschen und steigen aus. Ein gelangweilter BVG-Bediensteter geht gemächlich am Zug vorbei und sieht kurz in jeden Waggon, ob niemand mehr darin sitzt, dann schließen sich quietschend die Türen, und die U-Bahn fährt langsam wieder an. Ziemlich schockiert, dass unser Aufbruch schon so früh ins Stocken gerät, blicken wir der Bahn nach, bis ihre Rücklichter im dunklen Tunnel verschwinden. Schließlich machen wir uns auf den Weg zum Ausgang, wo der Schienenersatzverkehr abfahren soll. Wir treten ins Freie, spähen die Straße hoch und runter, eine Bushaltestelle ist aber weit und breit nicht zu sehen. Auch die anderen Fahrgäste sind wie vom Erdboden verschluckt.
Christina deutet auf ein verwittertes Straßenschild.
»Schau mal, die Grenzallee. War hier früher nicht Berlin zu Ende?«
Die Grenzallee ist eine große, vielbefahrene Straße, hohegraue Häuser säumen sie auf beiden Seiten wie eine Mauer, man kann sich kaum vorstellen, dass hinter den Fenstern überhaupt jemand wohnt. Ich muss sofort wieder an Blade Runner denken, an das dunkle, postapokalyptische Los Angeles, in dem der Film spielt.
»Keine Ahnung. Aber Neukölln ist hier definitiv zu Ende.«
Wir laufen den schmalen Gehweg entlang und suchen eine Ampel oder wenigstens einen Zebrastreifen, aber so weit das Auge reicht, ist nur die dichtbefahrene, dreispurige Straße zu sehen, und nie öffnet sich zwischen zwei Autos eine ausreichend große Lücke, um sie gefahrlos zu überqueren. Wir drehen um und laufen in die entgegengesetzte Richtung, doch auch hier das gleiche Bild. Es hat keinen Sinn. Langsam beginne ich mir Sorgen zu machen, dass wir unseren Flug nach Stuttgart verpassen.
Wir müssten eigentlich nur die Grenzallee überqueren, dann weiter durch Britz und schließlich bis nach Rudow, das schon mehr Vorstadt ist als Stadtteil, bis Berlin irgendwann endet, nicht plötzlich, sondern behutsam. Es gibt keine Mietskasernen mehr, keine Plattenbauten, sondern Einfamilienhäuser mit großen Vorgärten, darüber die Flugzeuge des benachbarten Flughafens in Schönefeld, ein immer wieder anschwellendes Brummen der steigenden und sinkenden Maschinen. Und eine davon soll uns von hier wegbringen. Noch eine Stunde, dann müssen wir spätestens am Flughafen sein, aber der Strom der viel zu schnell die Straße runterbretternden Autos reißt einfach nicht ab. Andere Fußgänger sind nicht unterwegs, weder hier auf dem Gehweg noch an der U-Bahn-Station.
Mir kommt eine Idee. »Vielleicht gibt es eine Unterführung,vielleicht hätten wir einfach den anderen Ausgang nehmen sollen.«
Wir rennen die Stufen zum Bahnsteig hinunter, zurück auf den menschenleeren Bahnsteig, und laufen zum anderen Ausgang, der aber – wie wir schon von weitem sehen – mit Brettern vernagelt ist. »Wegen Bauarbeiten ist dieser Ausgang geschlossen. Bitte benutzen Sie den Ausgang Grenzallee auf der gegenüberliegenden Seite des Bahnsteigs«, höhnt uns ein Schild entgegen.
Wir sehen uns nach einem BVG-Mitarbeiter um, aber es ist vergeblich. Resigniert gehen wir wieder zum anderen Ausgang. Ich stelle mir die rasenden Autos über unseren Köpfen vor, meterdicker Erdboden, Beton und Asphalt trennen uns von ihnen. Es muss doch möglich sein, diese bescheuerte Grenzallee zu überqueren, raus aus Neukölln, raus aus Berlin und zum Flughafen zu kommen. Unser Aufbruch kann doch nicht schon hier zu Ende sein. Fast wirkt es so, als wolle die Stadt höchstpersönlich verhindern, dass wir ihr den Rücken kehren.
Als wir wieder die Treppen zur Grenzallee hinaufgestiegen sind, steht plötzlich der ADS-Jugendliche vor uns. Ich zucke zusammen, den hätte ich hier am wenigsten erwartet. Ängstlich blicke ich mich um, ob sich in irgendwelchen Hauseingängen vielleicht ein paar Agent Smiths verstecken, aber der ADSler scheint allein zu sein. Er lächelt uns freundlich an, ich kann kaum glauben, dass er wirklich in die Vorgänge in der Rütli-Schule
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