Lehmann, Sebastian
verwickelt ist, seinen bunten Baseballschläger hat er auch nicht dabei.
»Wo kommst du denn jetzt her?«, rufe ich.
»Das könnte ich genauso gut euch fragen.«
Hat der ADS-Jugendliche gerade wirklich einen normalenSatz gesagt, ohne »ey Alter«, »du Opfer« oder »Bitch«? Auch sonst wirkt er ruhiger, kaum noch nervös, und wenn diese Beschreibung nicht der ganzen Erscheinung des ADSlers zuwiderlaufen würde, könnte man fast sagen: Er ist entspannt.
»Wollt ihr zwei etwa weg aus Berlin?«
Wir starren ihn ungläubig an.
»Das hat doch nichts mit der Klonsache zu tun, oder?«
Christina findet als Erste ihre Sprache wieder: »Weißt du, wie wir hier über die Straße kommen?«
Er lacht auf. »Wollt ihr wirklich wegen der Geschichte in der Rütli-Schule verschwinden?«
»Was weißt du denn davon?«, frage ich.
Der ADSler setzt eine ernste Miene auf, was bei ihm allerdings ziemlich lächerlich aussieht. »Ihr habt doch sicher schon mal was von Performance-Theater gehört, oder?«
»Ja, und was hat das mit uns zu tun?« Christina wiegt den Kopf genervt hin und her.
»Sehr viel, meine Lieben«, sagt der ADSler immer noch gutgelaunt. »Heutzutage wird der traditionelle Theaterraum zugunsten einer offeneren Form transzendiert«, doziert er in bester Dr.-Alban-Manier. Ihn solche krassen Fremdwörter aussprechen zu hören ist echt voll ungewohnt, Alter. »Man geht nach draußen und lässt das Spiel ins wahre Leben einsickern. Mit Hilfe dieser postdramatischen Herangehensweise verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Simulation, und die Gewissheiten der Rezipienten werden in Frage gestellt.«
Jetzt also auch noch postdramatisch. Diese ganzen Post-Begriffe gehen mir wirklich auf die Nerven. Ich sehne mich immer mehr nach der Zeit zurück, als man beim Wort »Post«noch an Briefe und umständliche Beamte mit Schnauzbärten dachte.
»Lasst uns mal nach unten gehen. Da wartet eine Überraschung auf euch.« Der Ex-ADS-Jugendliche deutet auf den U-Bahn-Eingang und grinst.
»Was denn jetzt noch?« Langsam wird es mir echt zu viel, aber er steigt schon die Treppen hinunter, und Christina und ich folgen ihm stumm.
Auf dem Bahnsteig erwartet uns tatsächlich eine Überraschung. Dort steht nämlich gutgelaunt und verlegen lächelnd: Gary.
»Du bist wieder zurück!«, rufe ich und umarme ihn. Er scheint ganz der Alte zu sein, gutaussehend und trotzdem immer unsicher.
»Dachtet ihr wirklich, ich wäre in die Sächsische Schweiz gefahren?« Gary zwinkert mir verschwörerisch zu, was mich nur noch mehr verunsichert.
Wo warst du denn sonst die ganze Zeit, und woher kommst du jetzt plötzlich?, will ich rufen, sage aber lieber nichts, weil ich Angst habe, mich lächerlich zu machen. Die ganze Situation hier wirkt so verdammt selbstverständlich.
Ich nehme Christinas Hand, die genauso irritiert dreinschaut wie ich. Was sollen wir denn jetzt machen? Weiter versuchen, nach Schönefeld zu kommen? Wirklich nach Stuttgart fliegen und dann weiter zum Bodensee? Ein gesetztes Landleben führen? Ich war mir doch so sicher (also zumindest halbwegs), dass ich es jetzt mal woanders was anderes probiere, mit Christina vor allem. Aber auf einmal hört sich das alles ziemlich abwegig an.
»Da kommt eure U-Bahn«, ruft der ADS-Jugendliche.
In diesem Moment fährt die U7 krachend in den Bahnhof ein. Gary, Christina und ich verabschieden uns mit Handschlag von dem Ex-ADSler und steigen ein. Als sich die U-Bahn wieder in Bewegung setzt, blicke ich zu Gary, der Christina und mir gegenübersitzt und uns die ganze Zeit leicht debil angrinst, als wäre er immer noch auf irgendwelchen Drogen. Ich kann das nicht recht glauben, diese komische Aufklärung, alles, was der ADSler gerade gesagt hat. Gibt es die Klone wirklich nicht? Und die Smiths waren nur ziemlich gut schauspielernde Statisten? Das ist doch viel zu viel Aufwand für so eine Theaterperformance. Und was soll damit bezweckt werden? Andererseits ist die Klongeschichte auch nicht gerade total glaubwürdig. Und Beweise für meine nächtlichen Erlebnisse haben wir ja auch nicht mehr gefunden.
Vielleicht kann Gary mir erklären, was es auf sich hat mit dieser postdramatischen Performance, aber ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll zu fragen, und ich glaube, Christina geht es genauso, also sagen wir nichts. Ich wünschte, Kurt wäre jetzt hier und könnte als Stimme der Vernunft alles aufklären.
Die Bahn fährt in den nächsten Bahnhof ein, und ich merke, dass wir auf dem Weg
Weitere Kostenlose Bücher