Lehmann, Sebastian
zurück nach Neukölln sind. Nur noch drei Stationen bis zum Hermannplatz. Wir sind wirklich nicht weit gekommen.
»Wo ist denn Dr. Alban?«, fragt Gary.
»Der wohnt jetzt in Tiergarten«, sage ich. »Und baut da ein neues Szeneviertel auf.«
»Neukölln ist auch langsam over«, sagt Gary und lacht sehr laut. Vielleicht ist er doch nicht mehr ganz der Alte. Je länger ich ihn beobachte, desto mehr fallen mir seltsameGesten und Gesichtsausdrücke an ihm auf, als würde ein mittelmäßiger Schauspieler den alten Gary imitieren. Aber bevor ich weiter darüber nachdenken kann, fahren wir in den Bahnhof Hermannplatz ein. Christina und ich steigen aus, und Gary sagt, er müsse noch in die Redaktion.
»Du bist gefeuert«, informiere ich ihn.
»Ach, ich hab das geklärt. Anscheinend ist eine Stelle in der Lifestyle-Redaktion frei geworden, und der Boss meint, ich könne da anfangen.« Er lacht wieder viel zu laut. »Für dich wäre da bestimmt auch noch Platz, das Lifestyle-Büro soll ziemlich groß sein.«
Ich sehe den neuen Gary skeptisch an, der unschuldig zurücklächelt, dann schließen sich die Türen, und die U-Bahn fährt wieder los.
Als Christina und ich auf den Hermannplatz treten, ist alles wie immer: Die Abendsonne taucht die Häuser in mattes Vintage-App-Licht, einige Hipster mit Stoffbeuteln schlendern an uns vorbei und unterhalten sich auf Dänisch.
»Als wären wir nie weg gewesen«, sage ich.
»Wir waren nie weg.« Christina schützt mit der Hand ihre Augen vor der milchigen Sonne, die gerade hinterm Karstadt untergeht. »Vielleicht kommt man von hier einfach nicht weg.«
»Was machen wir denn jetzt?«
Christina zuckt mit den Schultern. »Wir können in die No-Name-Bar gehen.«
Ich nicke, und wir machen uns auf den Weg. Wir laufen sogar einen kleinen Umweg, um nicht an der Rütli-Schule vorbeizukommen, aber wahrscheinlich ist es egal, wir begegnen keinen Jugendlichen in Kapuzenpullis, die Hipsterscheinen den Stadtteil inzwischen fest im Griff zu haben. Einmal kommt uns sogar ein Pärchen entgegen, das fast genauso aussieht wie wir.
Wir sind nicht mehr weit von der No-Name-Bar entfernt, da sehen wir wieder den Hertha-BSC-Alten. Wie immer steht er bewegungslos an einer Straßenecke, die Selbstgedrehte scheint ihm an seinen gelben Fingern festgewachsen zu sein, neben ihm stehen mehrere leere Mate-Flaschen auf dem Boden.
Christina kann sich natürlich nicht beherrschen und fragt ihn, ob er auch zu der Theaterperformance gehört. Er betrachtet uns ernst, ohne zu antworten, und erst da bemerke ich, dass er unter seiner Lederweste ein T-Shirt trägt, auf dem »Berlin« steht, vielleicht sogar »There’s just Berlin«. Wir gehen weiter, und als wir schon einige Meter von ihm entfernt sind, ruft er uns plötzlich hinterher: »All eure Träume werden Wirklichkeit.« Ich drehe mich nach ihm um, aber er ist verschwunden.
Endlich erreichen wir die No-Name-Bar. Wir finden einen freien Tisch am großen Fenster und lassen uns auf die Sperrmüllsessel fallen.
»Ich bin ganz schön müde«, sagt Christina und zündet sich noch im Hinsetzen eine Zigarette an.
Sofort steht der Barkeeper neben uns und lächelt uns an. Seine Augen sind leicht mit Kajalstift umrandet, und ich bin mir fast sicher, dass es Frank N. Furter ist, obwohl er heute keine Federboa trägt.
»Zweimal Club-Mate-Wodka«, ruft Christina, ehe ich etwas sagen kann. »Zum Aufwachen.« Frank N. entschwindet, um nur ein paar Sekunden später wieder mit zwei Flaschen Club Mate ohne Etikett aufzutauchen. Wir trinkenjeweils einen Schluck ab, Frank füllt die Flaschen mit Wodka auf und schüttelt sie, bevor er sie uns wieder aushändigt.
Wir schauen uns kurz an, halten die Mate-Flaschen in der Hand, natürlich ohne anzustoßen, und ich denke: Wir haben es versucht, wir waren schon auf dem Weg, aber vielleicht hat Christina wirklich recht – hier kommt man einfach nicht weg. Ein weiteres gewöhnliches Mysterium. Genauso wie die Klone, die Rütli-Jugendlichen, die Rückkehr von Gary und der Hertha-BSC-Alte.
Vom Tag der Entscheidungen ist auch nicht viel übriggeblieben. Oder eigentlich doch: Ich sitze hier mit Christina. Und morgen ist schließlich auch noch ein Tag, vielleicht versuchen wir dann einfach noch einmal wegzugehen, vielleicht bleiben wir aber auch hier sitzen. Meinen Vorsprung habe ich zwar verloren, die jungen Neuköllner haben mich längst in allen Belangen überrundet, aber ich weiß jetzt immerhin, dass das gar nicht so wichtig ist.
Weitere Kostenlose Bücher