Lehtolainen, Leena
Freunden würde ich erst dann von der Krankheit erzählen, wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ, mit Kalle wollte ich sprechen, wenn ich mich nicht mehr um Sulo kümmern konnte. Mein Patiententestament hatten zwei Mitarbeiter der Strahlenklinik beglaubigt. Es war sehr knapp: Keine lebensverlängernden Maßnahmen. Ich wollte nicht dahinvegetieren und anderen zur Last fallen.
Ich hatte wahnsinnige Angst, als man mir die Bleischürzen auf Bauch, Hals und Kopf legte und mich anwies, stillzuliegen.
Die summenden, stählernen Maschinen und die Strahlen, die sie ausschickten, kamen mir nicht heilend vor, sondern tödlich.
Ich war froh, als die Bestrahlungen vorbei waren. Die Injektio-nen mit zytostatischen Mitteln waren weniger dramatisch. Der Arzt riet mir, mich für die Dauer der Behandlung krankschrei-ben zu lassen, aber ich behauptete, es wäre für meine geistige Gesundheit besser, wenn ich arbeiten ging. Ohne meinen Beruf war ich nichts als eine Nummer im Register der Krebsklinik.
Zwei Tage lang saß ich in meinem geblümten, verblichenen Schlafanzug, die Schlummerdecke über den Schultern, auf dem Fußboden und lauschte auf die Stille, die nur von Sulos Miauen und vom lockenden Ruf einer fernen Amsel durchbrochen wurde. Das Zwitschern versetzte Sulo in Unruhe, am Samstagabend musste ich ihn hinauslassen. Ich hatte nicht die Kraft, mich anzuziehen und mitzugehen, mochten sich die Nachbarn doch beschweren, weil meine Katze frei herumlief. Als ich die Tür aufmachte, lag ein Strauß gefrorener Osterglocken davor, mit einer Karte:
«Friedliche Ostern! Komm mal vorbei, dann erzähle ich dir von den Kanarischen Inseln! Kalle.»
Ich holte die Blumen herein, wickelte sie aus und legte die Wange an ihr eiskaltes Gelb. Das Brennen auf der Haut erinnerte mich daran, dass ich immer noch existierte.
Die Ärztin hatte mich gefragt, was ich meinte, wenn ich sagte, ich hätte aufgehört, brav zu sein. Ich erzählte ihr von den Ver-
änderungen, die wir im Schutzhafen erreicht hatten, schließlich auch von dem Schusswechsel mit Jack Halme. Sie bat mich dringend, mich bei der Selbsthilfegruppe für Krebskranke zu melden, offensichtlich bereitete es ihr Sorge, dass ich niemandem von meiner Krankheit erzählt hatte.
«Soll ich Sie zu einem Psychologen oder Psychiater überwei-sen?» Als ich das ablehnte, ließ mich die Ärztin schwören, auch mit anderen außer Sulo über meinen Brustkrebs zu sprechen.
Sie wäre wohl nicht so freundlich gewesen, wenn ich ihr erzählt hätte, was ich sonst noch alles getan hatte.
In der Wärme wurden die Blütenblätter der Osterglocken dunkel und fielen ab. Ich schaute den Blättern beim Herabfallen zu und hatte das Gefühl, mich selbst zu betrachten. Ich stand auf den Ruinen meines Ich, es gab keinen Weg, mich wieder aufzubauen.
Sulo maunzte vor der Tür, er brachte den Geruch von schmelzendem Schnee mit in die Wohnung. Es war wärmer geworden.
Die Kinder hatten im mittleren Hof eine große Schneeburg gebaut. Da, wo sie ihre Schneebälle gerollt hatten, ragten einige schlaffe, bräunliche Grashalme auf, die die Hoflampe im Lauf des Abends schwarzgrün färbte. Ich stellte die am besten erhal-tenen Osterglocken in eine Vase und hörte meinen Magen knur-ren. Seit mehr als zwei Tagen hatte ich nichts gegessen. Im Kühlschrank standen noch der Lammbraten und die Pasha, die ich Anfang der Woche zubereitet hatte. Eigentlich hatte ich nach der Nachtschicht mein letztes Ostermahl essen wollen, zur gleichen Zeit, wie es in der Familie meines Vaters üblich war: am frühen Ostermorgen, nach der Prozession um die Kirche und der orthodoxen Messe.
Ich schmierte mir ein paar Butterbrote, dann ging ich unter die Dusche. Die Stelle meiner linken Brust nahm eine höckrige, dunkelrote Narbe ein, die fast von der Mitte des Brustbeins bis unter die Achsel reichte. Meine rechte Brust sah genauso aus, wie sie mein ganzes Erwachsenenalter hindurch ausgesehen hatte: flach, ein wenig hängend, mit himbeerfarbenem Nippel.
Keine perfekte Kugelbrust wie in den Illustrierten, aber gesund.
Ich trocknete mich ab, zog frische Unterwäsche an und nahm die Gelprothese in die Hand. Ich war sicher gewesen, man wür-de durch die Kleider hindurch die Fälschung sehen und bei Um-armungen spüren können. Die Ärztin hatte mir gesagt, wenn ich auch im August ohne Befund wäre, würde sie mir eine Über-weisung zur Brustrekonstruktion schreiben. Über diese Möglichkeit hatte ich mir bisher gar keine Gedanken gemacht, weil
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