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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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bestätigt. Dieser erste Anfall kam unvorbereitet über mich, unerwartet, unschuldig, falls dieses Wort hier passen sollte, also auch unverfälscht, und ich hatte damals keine Ahnung, was es bedeutete, wenn er sich hartnäckig über eine, dann über noch eine Stunde hinzog, bis die Ärztin zur Apotheke nach dem stärkeren Mittel schickte, das sie nicht vorrätig hatte. Lothar sah herein, er war der einzige, der hereinsehen durfte, es stand ihm dienstrangmäßig zu, er verkündete, es werde alles getan. Als hätte sie daran den geringsten Zweifel haben können. Sie lernte den hellen aseptischen Raum gut kennen, in dem sie lag, die Reihe von Glasschränken mit Instrumenten und Medikamentenschachteln an den Wänden, das große Fenster, das ins Grüne ging. Birkenwipfel im Wind, das tat ihr wohl, das Wort hat jetzt jeden Sinn für mich verloren, wohlsein, ich kann es mir nicht einmal vorstellen, warum siehst du mich so an.
    Lothar bot der Ärztin streng, zugleich vertraulich seine Dienste an. Ob er ein Auto schicken, ein wirksameres Mittel besorgen solle, vielleicht eines, das es bei uns nicht gab? Einen Facharzt herbeizitieren? Es dürfe nichts versäumt werden. Sein Gehabe war mir peinlich vor der Ärztin, der es auch peinlich zu sein schien und die einsilbig antwortete, eine Aura von Unechtheit umgab ihn, wie lange schon? Falschheit, ein hartes Wort, du hast es einmal gebraucht, nicht auf Lothar, auf Urban gemünzt, viel später, glaube ich. Wie komme ich auf Urban. Scharfäugig warst du, was ihn betraf. Zu scharfäugig, sagte ich dir, wir wußten beide, was ich damit meinte, du zucktest die Achseln. Wörter wie Eifersucht kamen zwischen uns nicht vor. Übrigens, sagte Lothar, ich komme gerade aus der Vorführung. Ich sage nur: Gratuliere.
    Da fragte ich mich, ob mein Körper, hinter dessen Schliche ich allmählich kam, dies alles nur inszeniert hatte, damit ein solches Wort von Lothar mir vollkommen gleichgültig sein konnte. Übrigens, Urban hat angerufen, sagte Lothar. Komisch, daß er sein wichtigtuerisches Gesicht beibehalten hatte, wenn er von Autoritäten sprach. Wir hatten ihn immer damit aufgezogen, besonders Urban ließ sich keine Gelegenheit entgehen: Achtung, erhebt euch, Lothar wird feierlich. Komisch, daß nun Urban für Lothar zur Autorität geworden war. Wann war das passiert? Hatte es genügt, daß Urban dienstrangmäßigan Lothar vorbeigezogen und jetzt in der Lage war, ihm Weisungen zu erteilen und Urteile über seine Arbeit abzugeben? Milde Urteile, wenn irgend möglich, oder, falls Kritik unvermeidlich war, eine in Ironie gekleidete Kritik, die immer durchblicken ließ, daß wir doch alle aus demselben Brutkasten kommen, wie Urban sich ausdrückte. Diese Versicherung, auch wenn sie nicht direkt ausgesprochen wurde, war Lothar wichtig. Daß Urban sofort angerufen hatte, um sich zu erkundigen, wie die Vorführung gelaufen war. Daß er hoch befriedigt gewesen war über die günstige Auskunft. Daß er besorgt um mich war und mich grüßen ließ.
    So kommen wir nicht weiter, sagt der junge Arzt. Inzwischen hat man sie an ein Gerät angeschlossen, das ihre Pulsfrequenz auf einen Bildschirm überträgt, eine hagere Ärztin, deren Ankunft ihr entgangen sein muß, macht sich an dem Gerät zu schaffen, sie hat graumeliertes Haar, das wie ein enganliegendes Käppchen geschnitten ist, sehr hohe Pulsfrequenz, sagt sie tadelnd, dem jungen Arzt mit dem Bartstreifen um Wange und Kinn paßt das alles ganz und gar nicht, er zählt auf, was er alles versucht hat, als müsse er sich verteidigen, sie möchte ihn am liebsten in Schutz nehmen. Die Ärztin, die jetzt also das Sagen hat, nennt den Namen eines Medikaments. Ob sie das kenne. Sie muß verneinen. Es ist neu, sagt die Ärztin. Wir spritzen es ganz vorsichtig, unter Monitorkontrolle. Aber Sie sind jaklitschnaß. Ein kurzes Hin und Her zwischen ihr und der blonden Schwester in dem rosa Kittelchen. Nein, hier in der Notaufnahme könne man mich nicht umziehen, das werde sogleich auf Station geschehen.
    Die Ärztin in jener Poliklinik, das weiß ich noch, hat mir das Gesicht mit Zellstoff abgetupft, wie sie aussah, weiß ich nicht mehr, Gesichter schwinden mir, ein Mangel, der dir unverständlich bleibt. Lothar aber legte sein falsches Gehabe plötzlich ab und hatte auf einmal seine alte Freundes-Miene, das weiß ich noch: Bestürzt, verlegen, unbeholfen, wie eben ein Mann die Krankheitszustände einer Frau aufnimmt. Ich mußte lächeln, ihm zulächeln, was ihn zu

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