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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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am Fußende ihres Bettes aufhält, wird deutlicher. Es paßt zu seinem Typ, daß er Düsteres verkündet. Er spricht von Mangel, von Niedergang und Verfall. Oder sei es etwa keine Schande, daß man auf einer Station wie dieser nicht genügend Hemden zum Wechseln habe. Was glauben Sie, sagt er, was wir hier jeden Tag improvisieren müssen. Wie stehe es übrigens mit ihrer Temperatur.
    Es kommt ihr so vor, als hätten sie alle nur auf den Augenblick gewartet, daß sie ihre Temperatur und die anderen Krankheitssymptome vernachlässigen können, um endlich ihre eigenen Probleme in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken. Sie weiß nicht, ob ihr das gefällt. Man kann sich daran gewöhnen, alle Aufmerksamkeit und alle Sorge auf sich zu ziehen. Ihr fällt ein, daß sie ein Recht darauf hat, müde zu sein. Sie läßt es Doktor Knabe wissen, der sich sofort zurückzieht, und schläft ein. Wieder dieser Homunkulus, er schwebt mir unbeirrt voran durch die unterirdischen Gänge in seinem bläulichen Licht. Ein Gefühl steigt in mir auf, für das ich lange nach einem Namen suche, währendich dem Licht folgen muß, das nun an den alten Kellerwänden eingeritzte Namen beleuchtet, die mir nichts sagen. Auf einmal erkenne ich die Namen toter Familienangehöriger, und das Gefühl wird stärker. Dann steht da, vor einer wackligen Lattentür, mit Kreide an die verrußte Wand gekrakelt: Hannes Urban. Jetzt erkenne ich das Gefühl: Es ist Grauen. Das Licht will mich durch die Lattentür ziehen. Da schreit etwas: Halt!, und ich pralle vor dem Nachhall zurück.
    Schlecht geträumt, sagt Elvira, ich höre noch den Schrei, Elvira sagt, sie träume nie und schreie auch nicht im Schlaf. Jetzt hätte ich beinahe etwas zu sehen gekriegt, was ich niemals hätte vergessen können.
    Elvira findet Schwester Thea gut. Sie ist die beste von allen Schwestern, wer von den Ärzten der beste ist, das kann sie nicht sagen, sie sieht sie ja kaum, und wenn schon, beachten die sie nicht. Für die Ärzte gibt es nur das medizinische Personal, sagt Elvira stolz, und natürlich die Patienten. Das muß so sein. Ja, sie steht sehr früh auf, um pünktlich hier zu sein, noch vor den Tagschwestern, zum Glück fährt die Straßenbahn an ihrem Haus vorbei, und früh aufstehn, das macht ihr nichts aus, ihr Freund muß auch früh hoch, der hat einen guten Posten in einer Betriebsküche als Kartoffelschäler und Gemüseputzer, da kriegt er auch sein Essen, reichlich und gut. Da ist er angesehen, das könne ich glauben.Ihnen beiden gehe es wirklich gut, sagt Elvira. Hier auf Station seien auch alle gut zu ihr. Und was sie hier alles schon gelernt habe! Also denn: Schönen Tag noch.
    Die Zeit springt in ihr Gleis. Tageszeiten bilden sich, Morgen, Mittag, Abend, aus Morgen und Abend wird ein neuer Tag. Scharf hebt die Nacht sich davon ab. Auch die Ärzte haben feste Zeiten, sie kommen nicht öfter zu ihr als zu den anderen Patienten, nur der Professor bleibt bei seiner Gewohnheit, früh vor der ersten Operation kurz hereinzuschauen. Geht es gut? Wie war die Nacht?
    Das kleine Radio beginnt zu sprechen, manchmal liest es ihr etwas vor. Das ist günstig, weil sie ein Buch noch nicht halten könnte. Einmal sagt es mit geschulter, bedächtiger Stimme: Ist ja doch der Tod ein großes Mittel des Lebens. Das leuchtet ihr ein, dann will es ihr wieder nicht einleuchten. Es kann doch nur gelten, wenn der Tod sich zurückgezogen hat, oder was meinst du. Daß das Leben dann um so leuchtender hervortreten kann, nicht? Du hast darüber noch nicht nachgedacht, du findest, das Leben braucht den Tod nicht als Hintergrund, um leuchtend oder wie auch immer hervorzutreten. Kora Bachmann, die auch seltener kommt, möchte den Satz noch anders auslegen, nämlich so, daß das Leben den Tod als Mittel benutzt, um den Lebenssatten oder Lebensmüden aus seiner sträflichen Lethargie herauszureißen, ihn durch einen heilsamenSchrecken ins Leben zurückzustoßen, damit er wieder richtig in Gang kommt und wieder weiß, wozu er auf der Welt ist.
    Nämlich wozu, Kora? – Na, um zu leben. – Da hast du es, sagst du.
    Kora geht. Ich sage: Sie ist nicht ganz nach deinem Geschmack. – Aber wieso denn. – Du weißt schon, wieso. Weil sie sich alles nach ihrem Maß anverwandelt. Dagegen wehrst du dich. – Das läßt du nicht gelten. Du hättest doch richtig gefunden, was Kora gesagt habe, und im übrigen kennest du sie viel zu wenig. – Als ob dich das je gehindert hätte, ein Urteil abzugeben. – Da

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