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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Zeit plaudern, den Tod. Amüsiert es Sie nicht auch, wie schwer es den Leuten ausgerechnet an diesem Ort fällt, dieses schlichte Wort auszusprechen?
    Es fiel mir auf.
    Nun sehen Sie.
    Aber da man ihm nicht entgeht – wieso sollte man besondere Anstrengungen machen, um ihn herbeizuführen.
    Diese Frage befremdet mich aus Ihrem Mund,wenn ich das sagen darf, sagt der bleiche Besucher, der ihr, wie ihr jetzt erst auffällt, seinen Namen nicht genannt hat, ein merkwürdiges Versäumnis bei seinem sonst überkorrekten Benehmen. Doch ich vergaß: Sie sind noch nicht wieder im Vollbesitz Ihrer Kräfte. Aber das können Sie nicht bestreiten: Die Literatur ist voll von diffizilen Beschreibungen dieser Anstrengungen todessüchtiger Menschen von alters her, nicht wahr.
    Sie bestreitet es nicht.
    Und daher sei der Platz, an dem all diese zappligen Versuche dieser armen Seelen endeten, auch der Ort, an dem man der Wirklichkeit am nächsten sei. Und – könne sie sich nicht vorstellen, daß jemand, der sehr nahe an der Realität sein wolle, genau dort seinen Arbeitsplatz finde?
    Dochdoch. Sie könne es sich vorstellen. Durchaus.
    Einen Arbeitsplatz, der nicht den mindesten Selbstbetrug gestatte?
    Auch das, gewiß. Obwohl –
    Obwohl Selbstbetrug ein Mittel des Lebens sei? Des Überlebens?
    Nun ja, wenn er so wolle.
    Er? Wollen? O nein. Er wolle nicht so, aber all die noch Lebenden wollen so, müssen so wollen. Nun denn – Gott befohlen. Chacun à son goßt, wie wir Franzosen sagen. Früher oder später erfährt ein jeder die Wahrheit, jeder einzelne dieser armen Betrügerund Selbstbetrüger. Wir können es erwarten.
    Sie hütet sich, herausfinden zu wollen, welchen Plural ihr Gast da eben verwendet hat. Er meine die Wahrheit, daß jeder Mensch sterben muß?
    Auch. Aber vor allem, Verehrteste, die Wahrheit darüber, ob da unter der sogenannten sterblichen Hülle irgend etwas des Aufhebens wert gewesen ist, das der Todgeweihte zeitlebens von sich selbst gemacht hat. Des Aufhebens durch den Tod, verstehen Sie mich. Da erlebe, falls das Wort hier am Platze sei, manch einer eine böse Überraschung. Nun denn. Genug geplaudert, er müsse gehen, die Arbeit dulde keinen Aufschub.
    Sie hält ihn nicht. Knapp daß sie einem Handkuß entgeht. – Ist Ihnen kalt? – Ein wenig. – Ich lege Ihnen die Decke über die Füße, ist das recht? – Sehr aufmerksam, danke vielmals.
    Der Professor, der eintritt, hat ihren Gast noch auf dem Gang getroffen. Da habe sie ja hohen Besuch gehabt. Ein exzellenter Spezialist, der Herr Kollege.
    Wofür, Professor.
    Wie meinen Sie das. Für die Untersuchung gewisser Substrate auf Keime hin. Wenn einer sie findet, dann er. Was denken Sie, wie viele Patienten der schon gerettet hat. Wir müssen dann nur noch das Mittel spritzen, das die betreffenden Erreger vernichtet. Mit einem unglaublichen Jagdfieber ist der hinter denen her. Er hat fast einen persönlichenHaß gegen sie entwickelt. Und wie es ihn mitnimmt, wenn er einmal zu lange gebraucht hat.
    Und der letale Ausgang nicht zu vermeiden war. Es nimmt ihn mit?
    Er kann einen regelrechten Wutanfall kriegen.
    Er liebt also das Leben, ja?
    Das ist, entschuldigen Sie schon, eine etwas merkwürdige Formulierung, auf meinen Freund bezogen. Vielleicht sage ich es so: Er kämpft mit dem Tod.
    Darf ich Sie etwas fragen, Herr Professor? Sie lieben das Leben?
    Ja.
    Übrigens ist er gekommen, der Patientin einige neue Maßnahmen anzukündigen. Ab morgen werde man mit der künstlichen Ernährung aufhören. Eine sachliche Mitteilung, nach der er eine Pause macht, um ihr Gelegenheit zum Widerspruch zu geben. Als sie schweigt, übernimmt er ihren Part mit. Ja, das sei klar, an die normale Ernährung werde sie sich erst gewöhnen müssen, aber das gehe im allgemeinen erstaunlich schnell. Nach ein paar Tagen werde sie sich nicht mehr vorstellen können, daß sie je ohne Essen ausgekommen ist.
    Vorläufig allerdings kann sie sich nicht vorstellen, wie sie je eine ganze Schnitte Brot soll essen können, die ihr Schwester Evelyn schwungvoll auf den Nachttisch gestellt hat. Weißbrot, hat sie geheimnisvoll dazu gesagt. Vom Tropf hat sie sie vorherabgehängt, die Nadel, die seit Wochen mit einem Pflaster in der Armbeuge festgeklebt war, herausgezogen. So, allmählich würde aus ihr wieder ein richtiger Mensch. Kein Lebenselixier gelangt mehr in ihre Adern. Sie muß sich schon ein wenig aufrichten lassen und selber die Suppe löffeln. Es stellt sich heraus, daß ihr Mund mit der

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