Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
Zustand. Was Elvira heute morgen zu mir gesagt hat, willst du gar nicht hören. Jetzt solle ich bloß nicht noch solche rückwärtsgerichteten Orakel ernst nehmen. Du stellst einen Strauß in mein Blickfeld, jede einzelne Blüte aus unserem Garten, du erinnerst mich, wo sie stehen, du zählst die Blumen auf, die noch blühen werden, wenn ich nach Hause komme, bald. Vage taucht vor meinen Augen das Bild einer Heimkehr auf, das ich sofort wieder verblassen lasse, weil es ja unvorstellbar ist, daß ich irgendwann einen Schritt außerhalb dieses Bettes tun werde. Ich sage: Du hast wohl ganz schöne Angst um mich gehabt. Du stehst am Fenster, blickst hinaus auf die Landschaft, die ich noch nicht gesehen habe, und sagst: Was denkst du denn. Übrigens hat es schon drei Tage lang nicht geregnet. Vielleicht retten sie doch noch etwas von der Ernte.
    Was denke ich denn. Eigentlich denke ich nichts,fällt mir auf. Eigentlich habe ich schon längere Zeit nichts gedacht, ohne das Denken zu vermissen. Eigentlich habe ich mich ganz wohl gefühlt, ohne zu denken. Das sage ich zu dir, du drehst dich um und ziehst die Stirn kraus. Na ja, wohl gefühlt, sage ich. Alles ist relativ. Na! sagst du, weiter nichts, aber in jenem Tonfall, der mich immer noch provoziert, nach all den Jahren. Ich meine doch nur, sage ich, denken kann so schmerzhaft sein, daß man es unter der Hand gegen andere Schmerzen eintauscht. So eine Art Kuhhandel mit dir selbst, verstehst du. – Schweigen. – Also an solchen Theorien bastelst du hier rum. – Ist mir eben erst eingefallen. Findest du nicht so gut, wie? – Das Wort »gut« paßt dir nicht. Ich habe den Eindruck, du möchtest es für eine Weile aus meinem Umkreis verbannen, es scheint sich nicht bewährt zu haben. Ist mir ja recht. Reden wir vom kleineren Übel. So wäre mein Denken für mich das größere Übel gewesen? Darüber müßte ich nachdenken, sage ich und versuche eine Art Grinsen. Ich weiß, was du denkst: Nichts kann ein größeres Übel sein als der Tod, aber das sagst du nicht. Wir schweigen eine Weile, in der jeder weiß, was der andere denkt, und wir kommen gleichzeitig am selben Punkt an: Du, sage ich, haben sie Urban gefunden?
    Ich sehe dir an, daß du die Frage erwartet hast und daß sie dir gegen den Strich geht. Was ich nur immer mit Urban habe. Ja. Sie haben ihn gefunden.Tot. – Das habe ich gewußt. Ich frage nicht, auf welche Weise er gestorben ist. Heute nicht. Eigentlich war es gar nicht so schlecht, als ich noch so schwach war, daß ich jeden Besucher, sogar dich, nach einiger Zeit wegschicken konnte. Hast du mit Renate gesprochen? frage ich. Du sagst: Nein. Ohne Begründung. Wenn ich zu Hause wäre, hätte ich mit ihr sprechen müssen. Im Lauf der Jahre spielen sich diese Arbeitsteilungen ein. Nach einer Weile sage ich: Wir sind ganz schön alt geworden, findest du nicht? Du sagst, ein Weilchen machen wir schon noch. Ich sage, ohne rechte Überzeugung: Wenn du meinst.
    Irgend etwas stört mich. Als du weg bist, fällt es mir ein: Ich fange wieder an, dir zu sagen, was du hören willst. Die Zeit der Rücksichtslosigkeit scheint vorbei zu sein. Ich ahne, was das bedeutet, will es aber noch nicht wahrhaben. Übrigens haben wir Renate bei Juttas Hochzeit zum letzten Mal gesehen. Alle hielten wir es für selbstverständlich, daß sie kam, sich von Jutta zu verabschieden, und daß Urban nicht kam. Dänemark, sagte sie, keiner von uns war je in Dänemark gewesen, der junge dänische Diplomat, mit dem Jutta weggehen würde, war sympathisch, eigentlich wußte er wohl nicht so richtig, in was für ein Spiel er da geraten war, aber man hatte ihn gelehrt zu helfen, wenn er helfen konnte. Und wenn diese junge hübsche Frau ihr Land nur verlassen durfte, wenn er sie heiratete,dann tat er das, und er bewirtete ihre Freunde, die alle nicht so lustig schienen, wie es bei einer Hochzeit sein sollte, mit dänischen Spezialitäten und sah zu, wie sie alle mit seiner jungen Frau tanzten, die er nicht anrühren würde, natürlich nicht, und Übersetzerin würde sie überall sein können, sie würde ihm nicht zur Last fallen, natürlich nicht. Später, gegen Mitternacht, kam Urban doch noch. Er wollte Renate abholen, schließlich müsse sie am nächsten Tag früh zum Dienst. Renate schüttelte den Kopf. Wir bemühten uns, zu Urban ganz unbefangen zu sein, das führte dazu, daß er sich an die improvisierte Bar stellte und anfing, sich zu betrinken. Das war das einzige Mal, daß du dich mit ihm

Weitere Kostenlose Bücher