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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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anlegtest. Du stelltest dich neben ihn und sagtest: Hau ab! Urban drehte sich auf dem Absatz um und ging. Viel später brachten wir Renate im Taxi nach Hause, niemand von uns sprach ein Wort.
    Sie brauchen nicht zu messen, sage ich zu Schwester Thea. Ich habe kein Fieber. Ach Mensch, sagt sie. Was Schöneres hätten Sie mir nicht sagen können. Jetzt ist aber wirklich Freude angesagt, nicht? Also muß ich ja sagen, Schwester Thea ist ein lieber Mensch, ich bin sicher, daß sie für mich gebetet hat und heute abend ihrem Gott danken wird. Sie steckt voller freundlicher Prophezeiungen. Den werden wir auch bald los, meint sie, als sie neue Ampullen an meinen Tropf hängt. Na und diesesganze Leitungssystem sowieso, erklärt sie, während sie die Abflüsse meiner verschiedenen Drains prüft. Sie findet das alles widerlich. Das höre ich von ihr zum ersten Mal, bis jetzt hat sie sich immer nur sachlich, sogar wohlwollend über alle die Schläuche geäußert, die in mich herein und an anderer Stelle aus mir hinausführen. Aber Sie können mir doch den Tropf nicht wegnehmen, sage ich, beinahe angstvoll, dann verhungere ich ja. Da wird Schwester Thea sarkastisch, was ich ihr niemals zugetraut hätte. Normale Menschen essen durch den Mund, sagt sie. Schon vergessen?
    Was ist los mit ihr. Hat sie Angst vor dem Verhungern? Darüber muß der Professor väterlich lachen, Schwester Thea hat es ihm erzählt. Die Temperatur der Patientin interessiert ihn gar nicht, das kränkt sie fast. Verhungern! sagt er. Auch kein schöner Tod. Davon wollen wir mal Abstand nehmen, nicht? Da verlassen Sie sich mal ganz auf uns.
    Mir bleibt ja nichts anderes übrig.
    Stimmt, sagt er. Noch bleibt Ihnen nichts anderes übrig. Aber bis jetzt sind Sie ganz gut dabei gefahren, nicht?
    Er will Lob hören für seine gute Arbeit, das gab es auch noch nicht. Irgend etwas in diesem Krankenzimmer muß sich verändert haben, alle Leute zeigen ihr heute ein anderes Gesicht. Pflichtschuldigst sagt sie: Ja. Mit Ihnen bin ich wirklich gutgefahren. Da wird er verlegen, ihr Professor, und verabschiedet sich schnell. Aber ehe er geht, in der Tür, sagt er noch: Heute abend gefallen Sie mir schon viel besser.
    Urban ist tot, und ich gefalle ihnen schon viel besser. Bald werde ich ihnen wieder so gut gefallen, daß sie keine prüfenden Blicke mehr auf mich werfen, daß sie mich nicht mehr zu Mitarbeit und Geduld ermahnen. Daß sie nicht mehr acht auf mich geben, weil sie sich keiner bösen Überraschungen durch mich mehr gewärtig sind. Von Urban waren wir uns auch keiner bösen Überraschung mehr gewärtig, auch keiner guten. Im Gegenteil, ich hatte ihn abgeschrieben, das muß einmal in nüchternen Worten gedacht werden. Urban war der geworden, der alles mitmachte und auch in Zukunft alles mitmachen würde. Bis es, überraschend für alle, eben doch eine Zumutung gegeben hatte, die er nicht mehr mitmachen konnte. Dies ist doch eigentlich etwas wie eine Hoffnung, oder nicht. Nur daß Hoffnung manchmal auf Ende zuläuft, zulaufen muß, auch das soll zugestanden sein. Wann hat er das erkannt? Ganz plötzlich, als sie von ihm verlangten, die Rede zu widerrufen, die er am Tag zuvor gehalten hatte, eine ziemlich radikale Rede, aus seiner Verzweiflung heraus, wie Renate am Telefon gesagt hatte? – Verzweiflung worüber. – Daß alles verloren ist, wenn wir jetzt nicht umkehren. – Spät, sagte ich, spät, spät. Oder habe ich es nur gedacht,um sie nicht noch mehr zu verletzen. Jedenfalls kam es wie eine Antwort von ihr, sehr leise: Und aus Verzweiflung, daß er nicht früher widersprochen hat. – Und wieder ich, leise: Und warum hat er nicht? – Weil er dachte, dann ginge erst recht alles verloren, sagte Renate und begann hemmungslos zu weinen.
    Eigentlich war er dafür zu klug. Er steckte also schon länger in der Klemme. Urban, der mir einmal sehr gefallen hatte, der mir mit den Jahren immer weniger gefiel. Den ich abschrieb, als ob ich Freunde im Überfluß gehabt hätte, anstatt – anstatt was? Mit ihm zu reden? Sogar jetzt, sogar nach diesem Ende weiß ich, daß es sinnlos gewesen wäre. Den Ausweg, den er gewählt hat, der ihn gewählt hat, den habe ich verworfen. Der Versuchung habe ich mich erwehrt. Wir unterscheiden uns doch sehr, Urban und ich, vom Grunde her, das weiß ich seit langem. Habe es ihn auch wissen lassen. Dümmeren als ihm, habe ich ihm gesagt, könnte ich solches Verhalten verzeihen. Ihm nicht. Danach vermied er es endgültig, mit mir

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