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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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zusammenzutreffen. Und ich vermied es, mit ihm zusammenzutreffen. Unsere Kreise berührten sich nicht mehr, auch im Bösen nicht. Das war die bequemste Variante, für beide.
    Denn allmählich hatte sich die Einsicht herausgeschält, daß man nur entweder sich selbst aufgeben konnte oder das, was sie »die Sache« nannten,»unsere gemeinsame Sache«, alle Beiworte fielen ab, eins nach dem anderen. Diese Einsicht stellte eine Reihe von Jahren in ein deutliches Licht.
    Kora sagt, was sie immer sagt: Sie denken zuviel. Sie reden zuviel. Lassen Sie es genug sein. Kora wird abberufen.
    Aus dem Radio der dunkle Klang einer Klarinette, das gibt es noch. Sie schläft ein und träumt nichts und wacht auf, als die Nachtschwester das Thermometer bringt, schläft weiter, merkt nicht, wie ihr das Thermometer wieder abgenommen wird, überschläft den geräuschvollen Auftritt von Elvira, die erste kurze Visite des Professors, von der ihr Schwester Christine berichtet. Er sei erfreut gewesen. Draußen scheine die Sonne. Vielleicht erhole die Ernte sich doch noch. Aber nun könne sie sich eigentlich mit der rechten Hand, die nicht am Tropf hängt, selber das Gesicht waschen, nicht wahr. Sie stimmt Schwester Christine in allem zu und tut, was die sagt. Als sie gegangen ist, schläft sie sofort wieder ein, wacht auf, schläft ein, sieht den Sonnenstrahl an der Wand auftauchen, sieht ihn in den Schlafpausen wandern, verschwinden, dann stehst du am Bett und sagst: Ihr Kind schläft sich gesund. Ich sage: Ich bin so müde. – Kein Wunder, sagst du. Ich finde doch, daß es ein Wunder ist.
    Ich spreche von Höhlen, in denen die Gefühle entstehen. Ich kann nicht sagen, woher ich das weiß. Ich sehe ein, daß ich dir nicht jede Erfahrung einredenkann. Eigentlich entstehen sie nicht, die Gefühle. Sie tauen auf. Als seien sie eingefroren gewesen. Oder betäubt.
    Wovon betäubt.
    Von dem Schock, daß alles, was ich sage oder schreibe, verfälscht ist durch das, was ich nicht sage und nicht schreibe.
    Dies ist normal, meine Liebe, sagst du. Wir heben uns das für später auf, ja?
    Ja. Wie ist Urban gestorben.
    Er hat sich erhängt. In einem Wäldchen. Er ist erst nach Wochen gefunden worden.
    Renate. Mein Gott, Renate. Sie muß mit diesem Bild leben.
    Du sagst, du habest sie angerufen. Sie habe kaum gesprochen.
    Du sagst: Man hatte ihn von seiner Funktion abgelöst, vor versammelter Mannschaft. Sein Institut sollte ein anderer übernehmen. Er kriegte noch einmal einen seiner Starrsinnsanfälle und tobte, dann lief er aus der Versammlung und fuhr mit seinem Auto los. Irgendwo stellte er es ab, auf dem Sitz fand man einen Zettel: Ihr findet mich nicht.
    Nun sei es für heute genug. Ja, sage ich und schlafe ein. Beim Erwachen habe ich den Satz im Ohr: Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis. Sie sagt diesen Satz zu Kora Bachmann, die gerade hereingekommen ist. Schlau waren sie ja, die Alten, sagt sie. Übrigens: Eigentlich haben wir den gleichen Beruf.Sie spüren den Schmerz im Körper auf, ich anderswo.
    In der Seele, meinen Sie.
    Mir fällt ein, die Seele finden Ihre Chirurgen niemals, so tief sie auch schneiden mögen. Und deshalb glauben sie nicht an sie.
    Der Professor will wissen, woran er nicht glaubt, er hat in der Tür gestanden. Ach die Seele, sagt er gutmütig, als spräche er über ein possierliches Tierchen. Dochdoch. Wir nehmen das schon ernst.
    Was bitte?
    Es kommt heraus: Die Seele als Störfaktor. Die sei nicht zu unterschätzen. Es gebe Fälle, deren Verlauf man sich nicht anders als durch solche immateriellen Störmanöver erklären könne.
    Die haben Sie bei mir auch vermutet.
    Der Professor wird professionell. Bei ihr seien es eindeutig die Keime gewesen. Bakterien, die wir zur Raison gebracht haben.
    Und was ist mit meinem schwachen Immunsystem?
    Tja, sagt der Professor und hebt die Schultern.
    Die beiden Frauen lachen über ihn, er lacht mit. Ihr Immunsystem kriegen wir auch noch hin. Aber dürfe er sich die Frage erlauben, ob sie noch Schmerzen habe.
    Sie horcht ihre Schmerzstellen ab, findet nichts. Na sehn Sie, sagt der Professor, das ist doch erfreulich. Er fängt an, sich die Plastehandschuhe anzuziehen,die Schwester Margot ihm zureicht. Zwei Paar zerreißen sofort, wenn er mit den Fingern hineinfährt. Zum ersten Mal hört sie ihn fluchen. Immer dasselbe, sagt er, die kriegen nicht mal mehr anständige Handschuhe fertig. Wen er mit »die« meint, muß sie nicht fragen. Doktor Knabe, der Nachtdienst hat und sich lange

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