Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit (German Edition)
neue Weltbild ab. Galten sie bisher als Nomaden, die sich quer zu allen Himmelskörpern auf geraden Bahnen bewegen, fallen sie jetzt unter dieselben Gesetze wie die Planeten – eine spektakuläre Bestätigung für Newtons Himmelsmechanik. Flamsteed erhält immerhin einen Dankesbrief. Aber er und Hooke, die beiden Forscher, denen Newton im Hinblick auf seine Gravitationstheorie am meisten schuldet, werden schließlich zu seinen erbitterten Widersachern. Vor allem Hooke fühlt sich von Newton völlig übergangen.
Teil IV
ZEIT DER UNRUHE
WAS ALSO IST ZEIT?
Jahrhundertelang stand die leibnizsche Zeittheorie im Schatten der newtonschen Physik und erlebt nun ein spätes Comeback
Ein Leben ohne Uhr? Man kann sich das kaum noch vorstellen. Uhren sind eingebaut in Küchenherde und Pkws, in Computer und Smartphones. Sie untergliedern den Schulalltag von Kindern, teilen Produktions-und Arbeitsprozesse in Häppchen. Selbst unsere Freizeit steht unter ihrem Regime.
In einigen Ländern der Erde schaut die Bevölkerung selten auf solche Uhren. Stattdessen geben die Menschen den Ereignissen ihren Raum und lassen sich nicht unter Druck setzen, alles möglichst schnell zu erledigen. Ein gemeinsamer zeitlicher Bezugsrahmen kann dort etwa jene Spanne sein, die man braucht, um Reis zu kochen (Madagaskar), in der eine Schale Tee abkühlt (Tibet) oder eine Kerze abbrennt. 168
Im Unterschied dazu unterteilt eine mechanische Uhr den Tag in immerzu gleiche Abschnitte, und zwar mithilfe schwingender Pendel, Unruhfedern oder Quarzkristallen, die immer wieder zum selben Ausgangszustand zurückkehren. Im Lauf der Jahrhunderte sind die Gangregler kleiner und kleiner, ihre Taktfrequenzen immer schneller geworden. So schnell, dass sich der Handel an der Börse heutzutage jenseits aller menschlichen Reaktionszeiten vollzieht.
Was aber haben all diese Uhren mit Zeit zu tun? Wir sagen zwar, dass wir mit ihrer Hilfe »die Zeit messen«, und reagieren auf den vollen Terminkalender mit Aussagen wie: »Ich habe keine Zeit.« Doch solche Redewendungen würden uns in die Irre führen, beanstandet der Soziologe Norbert Elias. Das Substantiv »Zeit« suggeriere, dass ein Ding existiere, »eben die Zeit, die es zu bestimmen oder zu messen gilt«. Was aber soll das sein?
Ende des 20.Jahrhunderts hat Elias den leibnizschen Argumenten eine neue Stimme verliehen. Nie messen wir eine »Zeit an sich«. Wie die oben genannten Beispiele der Reisuhr, der Teeuhr oder des vorrückenden Zeigers einer mechanischen Uhr illustrieren, setzt jede Zeitmessung voraus, dass man sich in einer Kultur auf einen Geschehensablauf als gemeinsamen Bezugsrahmen einigt. »Das Wort ›Zeit‹«, so Elias, »ist ein Symbol für eine Beziehung, die eine Menschengruppe, also eine Gruppe von Lebewesen mit der biologisch gegebenen Fähigkeit zur Erinnerung und zur Synthese, zwischen zwei oder mehreren Geschehensabläufen herstellt, von denen sie einen als Bezugsrahmen oder Maßstab für den oder die anderen standardisiert.« 169
Seit Beginn der Neuzeit haben sich Zeitstandards drastisch geändert. Newton zum Beispiel lernte noch in seiner Kindheit für die zeitliche Unterteilung der Nacht Begriffe wie Dämmerung, Einbruch der Nacht, Kerzenanzünden, dunkle Nacht, Spätnacht, Morgengrauen und Hahnenschrei. Auf dem Land in Woolsthorpe war die Zeitbestimmung gebunden an sichtbare und hörbare Eindrücke und allgemein übliche Tätigkeiten wie das Kerzenanzünden. Als Newton dann 50 Jahre später in die englische Hauptstadt umzog, war er Besitzer einer Uhr mit Minutenzeiger und eingetaktet in das großstädtische Leben. Als Direktor der Münzanstalt hatte auch er des Öfteren keine Zeit, an den von ihm geschätzten Versammlungen der Royal Society teilzunehmen, weshalb die Sitzungen schließlich seinetwegen verschoben wurden.
Im Hinblick auf unsere Zeitkultur setzte das 17.Jahrhundert völlig neue Maßstäbe. Der Schriftsteller Elias Canetti nannte es die »früheste Periode der Geschichte, die uns, wie wir heute sind, wirklich schon enthält«. 170 Der Kutschenverkehr und die künstliche Beleuchtung zogen in die Großstädte ein, der Kaffeehausbesucher und Zeitungsleser tauchte als neuer Typus auf. Natürlich mussten Zeitungen aktuell sein. Was heute der Nachrichtenticker ist, war Ende des 17.Jahrhunderts das Postscript: Wer etwa als Buchhändler die gedruckte Zeitung in London verkaufte, konnte in einem eigens dafür freigelassenen Weißraum die neuesten Nachrichten handschriftlich
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