Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit (German Edition)
nachtragen. Nicht mehr lange, und auch die erste Abendzeitung wurde in London herausgegeben. 171
Damals variierte die Uhrzeit noch von Stadt zu Stadt. Heute zeigen Uhren in ganz Europa ein und dieselbe Zeit an. Diese Standardzeit allgemein verfügbar zu machen ist zur alleinigen Sache von damit beauftragten Forschungsinstitutionen geworden. Sie schicken ihre Zeitsignale als codierte Zahlenfolgen per Funksignal an den Wecker auf unserem Nachttisch. Das bestärkt uns in der Ansicht, Zeit wäre ein unablässig fließender Strom, irgendetwas Wirkliches, dem man gewisse Eigenschaften zuschreiben kann. Gelegentliche Schalttage oder unregelmäßig eingefügte Schaltsekunden reichen als Irritationen nicht mehr aus, dass wir uns einmal ernsthaft mit Zeitmessung beschäftigen und uns fragen würden, was dabei wozu in Beziehung gesetzt wird. Wir haben das Gefühl, dass »die Zeit« rennt, während tatsächlich nur die Zeiger unserer selbst gebauten Instrumente rennen. Und wir selbst.
Im Schatten Newtons
In der Wissenschaft, die die Zeitbestimmung unter ihre Fittiche nahm, setzte sich das leibnizsche Verständnis von Zeit nicht durch. Weder Leibniz noch einem anderen barocken Naturforscher gelang es, den Principia eine irgendwie vergleichbare relationale physikalische Theorie gegenüberzustellen.
Uhren zeigen zuverlässig an, was früher ist und was später, weil sich hinter dem Vorrücken des Zeigers kausale Mechanismen verbergen. Leibniz zufolge sind kausale Beziehungen nicht nur bei Uhren, sondern generell die Basis für die zeitliche Ordnung, die wir im Nacheinander der Ereignisse erkennen. »Wenn von zwei Elementen, die nicht zugleich sind, das eine den Grund des anderen einschließt, so wird jenes als vorangehend, dieses als folgend angesehen«, lautete einer der zentralen Sätze seiner kausalen und relationalen Auffassung von Zeit. 172
Seine Kritik an einer prinzipiell unbeobachtbaren »absoluten Zeit« verhallte angesichts des überwältigenden Erfolgs der newtonschen Physik. Der Zeitbegriff, den Newton seinen Principia zugrunde legte, schien makellos. Außerdem war er eine wesentliche Voraussetzung für eine einfache und einheitliche Beschreibung der Naturvorgänge. Die »absolute Zeit« als fester Bezugsrahmen reduzierte die Komplexität im Zusammenspiel physikalischer Objekte genauso, wie die überall präsente Uhrzeit die Koordinierung des menschlichen Zusammenlebens in einer Stadt mit ihren vielen Verflechtungen erleichterte. Im neuzeitlichen Rationalisierungsprogramm verschmolzen sie rasch miteinander.
Um die weitere Entwicklung des physikalischen Zeitbegriffs zu verstehen, ist es hilfreich, einen kurzen Blick darauf zu werfen, wie die »absolute Zeit« und der »absolute Raum« im 18. und 19. Jahrhundert in der wissenschaftlichen Praxis zur Geltung kamen. Dazu kehren wir noch einmal kurz zurück zu Newtons Ausgangsfrage: Wie bewegt sich ein Planet um die Sonne?
Der Lauf des Planeten lässt sich zunächst in Bezug auf einen irgendwie vorgegebenen »absoluten Raum« beschreiben, auf ein abstraktes Koordinatensystem, ähnlich jenen transparenten Blättern mit den Skalen A , B , C … und 1, 2, 3 …, die man in dem einem oder anderen Autoatlas findet. Für die anschließenden mathematischen Berechnungen gibt es jedoch eine bessere Wahl. Die Anziehungskraft, die den Planeten an die Sonne bindet, hängt nämlich lediglich davon ab, wie weit er von der Sonne entfernt ist. Daher gehen Physiker im nächsten gedanklichen Schritt zu einem Bezugssystem über, dessen Zentrum in der Sonne liegt.
Betrachten wir den Planeten also von der Sonne aus: Seine Position ist dann gegeben durch den Abstand von ihr und jenen Winkel, um den sich der Abstandsvektor wie ein Uhrzeiger dreht. Beides sind keine absoluten, sondern relative und für Astronomen beobachtbare Größen. Und das ist keineswegs eine Besonderheit der newtonschen Schwerkrafttheorie. Alle bis heute bekannten physikalischen Grundkräfte variieren mit dem Abstand der Körper voneinander. Insofern haben es Forscher stets mit relativen räumlichen Größen zu tun und nicht mit absoluten.
Und was ist mit der Zeit? Inwiefern behält das Konzept einer »absoluten Zeit« in der physikalischen Praxis seine Berechtigung?
Für konkrete Berechnungen ersetzen Forscher die »absolute Zeit« schlicht durch die Uhrzeit. Sie greifen auf jenes Zeitmaß zurück, das eine möglichst genau gehende Uhr bereitstellt. Um den Planeten am Himmel wiederzufinden, ermitteln sie dann für den
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