Leibniz, Newton und die Erfindung der Zeit (German Edition)
Stechuhr. England ist dabei, den Weg zu einer kapitalistischen Zeitökonomie einzuschlagen.
Ohne die neuen Uhren wären auch Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica kaum vorstellbar, seine revolutionäre Bewegungslehre und Theorie der Schwerkraft, in der Beschleunigung alles ist und die zu ihrer experimentellen Bestätigung einer genauen Zeitmessung bedarf. Schon vor ihm hat der Chefexperimentator der Royal Society, Robert Hooke, mit einem kreisenden Pendel den Lauf der Planeten simuliert und deren Kreis-oder Ellipsenbahnen erstmals physikalisch richtig gedeutet. Ihm verdankt Newton den entscheidenden gedanklichen Anstoß zur Schwerkrafttheorie.
Kein Forscher hat das Denken über Zeit derart geprägt wie Newton. Ihm zufolge bewegen sich alle Planeten, Monde und anderen Körper vor dem Hintergrund einer universellen Zeit. »Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand.«
Für Leibniz dagegen ist Zeit nicht einfach da. Sie ist nichts Wirkliches, worin sich alles Geschehen abspielt, sondern zuallererst ein Bewusstseinsphänomen. Unser subjektives Zeiterleben schließe aber nicht nur innere Vorgänge ein. Zeit sei eine »Idee des reinen Verstandes«, die sich auch auf die Außendinge beziehe und derer wir vermöge unserer Sinne gewahr würden.
Leibniz fasziniert die Vielfalt und Komplexität der Welt. Seine Metaphysik verfolgt die Vielfarbigkeit des Daseins bis in die kleinsten individuellen Erscheinungsformen hinein. Der Philosoph schlägt einen Bogen vom subjektiven Zeitempfinden zu einer sozialen und messbaren Zeit.
Durch den Blick auf die Uhr können wir das Geschehen deshalb zuverlässig in Früheres und Späteres einteilen, weil sich im Inneren der Automaten ein kausaler Mechanismus auf immer gleiche Weise abspult. Aber auch ohne Uhren können wir uns mit anderen darüber einig werden, ob sich etwas früher oder später ereignet hat. Leibniz zufolge erkennen wir fortwährend kausale Beziehungen zwischen den Dingen und ihren wechselnden Zuständen und konstruieren erst aufgrund dieser eine zeitliche Ordnung.
Leibniz, nicht nur abstrakter Denker, entwirft selbst Uhrenmodelle und erfindet einen Automaten, der keine Zeiteinheiten zählt, sondern alle vier Grundrechenarten beherrscht. Im Zusammenspiel mit Uhrmachern heckt er neuartige mechanische Bauteile aus, die die natürlichen Zahlen repräsentieren, konzipiert Eingabe-und Resultatwerke und investiert ein Vermögen in seine »lebendige Rechenbank«. Quasi nebenbei blitzt dabei 1679 auch die Idee eines binären Rechners auf. Sie ahnen nicht, wie viel Leibniz in Ihrem Computer steckt!
Der Deutsche, dessen Gelehrtenkorrespondenz, etwa 15000 Briefe, heute Teil des Weltkulturerbes ist, sucht mehrfach den Kontakt zum führenden englischen Mathematiker. Newton ist es dank seines Infinitesimalkalküls gelungen, die Bewegung der Planeten und anderer Körper Zeitpunkt für Zeitpunkt kontinuierlich zu erfassen. Allerdings hat der eigenbrötlerische Forscher aus Cambridge seinen Calculus nicht veröffentlicht, sondern geheim gehalten.
Den Ruhm heimst Leibniz ein, der nach ihm auf die gleiche Rechenmethode gestoßen ist. Leibniz kleidet die Differenzial-und Integralrechnung in ihre bis heute verwendete Symbolsprache und macht sie von 1684 an auf dem Kontinent bekannt. Mit den wenigen Briefen, die sich die beiden herausragenden Mathematiker ihrer Zeit schreiben, setzt ein raffiniertes Versteckspiel ein. Ihre anfängliche Wertschätzung füreinander wird bald vom Konkurrenzdenken überschattet. Schließlich entfesseln sie den heftigsten Prioritätsstreit in der Geschichte der Mathematik. Er weitet sich zu einer Staatsaffäre aus, als der hannoversche Kurfürst Georg Ludwig, in dessen Diensten Leibniz steht, 1714 zum britischen König George gekrönt wird. Erst kurz vor Leibniz’ Tod mündet die Auseinandersetzung durch das Eingreifen der Prinzessin von Wales in eine maßgebende Debatte über Raum und Zeit.
Unser Zeitbewusstsein und die vielfach empfundene Zeitknappheit in westlichen Gesellschaften sind Ausdruck eines Zivilisationsprozesses, in dem immer mehr Tätigkeiten vor dem Hintergrund eines engmaschigen Zeitrasters erlebt werden. Dieses Buch rollt die Zeit-Geschichte noch einmal auf. Es schaut zurück auf eine Epoche, in der sich in Europa eine neue Zeitrechnung anbahnt, in der das Verständnis von Zeit aber noch nicht von omnipräsenten
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