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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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hohes Dreibein aus Holz stand, das dem Gerüst eines Tipis ähnelte. In der Mitte lag eine Leiche auf einer Plattform
     und wartete darauf, hochgehoben und gewogen zu werden. Ich erinnerte mich an Alanas Warnung, verließ den Pfad, überquerte
     die Lichtung und ging zu einer Reihe geometrisch in den Waldboden eingelassener Betongruben. In ihnen waren als Teil eines
     Experiments, das die Wirkung von Bodenradar bei der Aufspürung von Leichen untersuchte, menschliche Überreste begraben.
    Ein paar Meter weiter kniete ein hochgewachsener, schlaksiger Mann in hellen Baumwollhosen und mit einem Schlapphut, der ein
     Messgerät am Ende eines aus dem Boden stakenden Rohrs begutachtete.
    «Wie läuft’s?», fragte ich.
    Er schaute nicht auf und schielte durch seine Drahtgestellbrille auf das Messgerät, das er vorsichtig mit einem Finger antippte.
     «Man sollte doch annehmen, dass man einen so starken Gestank problemlos wahrnehmen müsste, oder?», gab er zur Antwort.
    Die dumpfen Vokale verrieten seine Herkunft von der Ostküste, den breiten Südstaatendialekt Tennessees hatte er sich nie angeeignet.
     Solange ich ihn kannte, war Tom Lieberman auf der Suche nach seinem persönlichen heiligen Gral: Er analysierte Molekül für
     Molekül die bei der Verwesung entstehenden Gase, um dem Geruch des Verfalls auf die Schliche zu kommen. Wer jemals eine tote
     Maus unter seinen Dielenbrettern liegen gehabt hat, kann bestätigen, dass er existiert, |16| und er existiert auch dann noch, wenn der Mensch ihn längst nicht mehr wahrnimmt. Hunde können darauf abgerichtet werden,
     den Geruch noch Jahre nach der Beerdigung einer Leiche zu erschnüffeln. Tom vertrat die Theorie, dass es möglich sein müsste,
     einen Sensor zu entwickeln, der diese Aufgabe genauso gut bewerkstelligen konnte, was das Aufspüren und die Bergung von Leichen
     erheblich vereinfachen würde. Doch wie bei allen Dingen lagen Theorie und Praxis auch in diesem Fall sehr weit auseinander.
    Mit einem Brummen, das entweder Frustration oder Befriedigung bedeuten konnte, stand er auf. «Okay, ich bin fertig», sagte
     er und zuckte zusammen, als seine Kniegelenke knackten.
    «Ich wollte gerade in die Cafeteria und etwas essen. Kommst du mit?»
    Er lächelte wehmütig und packte sein Equipment ein. «Heute nicht. Mary hat mir ein paar Sandwiches mitgegeben. Huhn und Bohnensprossen
     oder irgendetwas anderes ekelig Gesundes. Und bevor ich es vergesse, du bist am Wochenende zum Essen eingeladen. Sie scheint
     es sich in den Kopf gesetzt zu haben, dass du eine anständige Mahlzeit brauchst.» Er verzog das Gesicht. «Dich will sie aufpäppeln,
     und ich kriege nur Hasenfutter. Wo bleibt da die Gerechtigkeit?»
    Ich lächelte. Toms Frau war eine großartige Köchin, und das wusste er. «Sag ihr, dass ich gern komme. Soll ich dir mit dem
     Kram helfen?», bot ich an, als er sich seine Tasche über die Schulter hängte.
    «Nein, schon in Ordnung.»
    Mir war klar, dass er sich Sorgen machte, ich könnte mich überanstrengen. Doch auch wenn er langsam zurück zum Tor ging, konnte
     ich sehen, wie er unter dem Gewicht der Tasche außer Atem geriet. Als ich Tom kennengelernt hatte, |17| war er bereits Mitte fünfzig gewesen und hatte gern einen noch recht unerfahrenen britischen Anthropologen unterstützt. Das
     lag länger zurück, als ich mich erinnern mochte, und obwohl ich seitdem ein paarmal wiedergekommen war, war mein letzter Besuch
     eine Weile her. Wir erwarten, dass die Menschen so bleiben, wie wir sie in Erinnerung haben, aber natürlich ist das nie der
     Fall. Dennoch war ich bestürzt gewesen, wie sehr sich Tom verändert hatte, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte.
    Offiziell hatte er noch nicht bekannt gegeben, wann er als Direktor des Instituts für Forensische Anthropologie zurücktreten
     wollte, jeder wusste jedoch, dass es wahrscheinlich vor Ende des Jahres geschehen würde. Selbst der Artikel über ihn, der
     vor zwei Wochen in der Regionalzeitung von Knoxville erschienen war, hatte sich eher wie ein Nachruf denn wie ein Interview
     gelesen. Er sah zwar noch aus wie der Basketballspieler, der er einmal gewesen war, das Alter aber ließ den immer schon schmalen
     Mann regelrecht ausgemergelt erscheinen. Und seine Wangen waren so hohl geworden, dass sie ihm in Verbindung mit den größer
     werdenden Geheimratsecken ein sowohl asketisches als auch beängstigend gebrechliches Aussehen verliehen.
    Das Funkeln in seinen Augen war jedoch unverändert,

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