Leichenblässe
auch, du kennst also ein paar Leute», fügte Paul hinzu, als er mein Zögern sah. «Komm schon, es wird
lustig.»
Mir fiel kein Grund mehr ein, nein zu sagen. «Na schön, okay. Danke.»
«Super. Ich hole dich um acht in deinem Hotel ab.»
In dem Moment ertönte eine Autohupe. Als wir uns umschauten, sahen wir Toms Wagen, der am Straßenrand anhielt. Tom kurbelte
das Fenster herunter und winkte uns zu sich.
«Ich habe gerade einen Anruf vom Tennessee Bureau of Investigation bekommen. Sie haben in einer Berghütte in der Nähe von
Gatlinburg eine Leiche gefunden. Klingt ganz interessant. Wenn du Zeit hast, Paul, könntest du mitkommen und dir die Sache
ansehen?»
Paul schüttelte bedauernd den Kopf. «Heute Nachmittag geht’s nicht. Kann nicht einer von deinen Studenten mitkommen?»
«Könnte wohl schon.» Tom wandte sich ohne Eile an mich, aber das Funkeln in seinen Augen war nicht zu übersehen. «Wie sieht’s
mit dir aus, David? Lust auf ein bisschen praktische Arbeit?»
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|21| KAPITEL 2
Auf dem Highway aus Knoxville hinaus herrschte zäh fließender Verkehr. Obwohl es noch so früh im Jahr war, war es bereits
so warm, dass man im Wagen die Klimaanlage anschalten musste. Tom hatte das Navigationsgerät programmiert, damit wir uns nicht
verfuhren, wenn wir die Berge erreichten. Er summte beim Fahren leise vor sich hin, ein Zeichen für seine Vorfreude, wie ich
mittlerweile wusste. Die Realität der Body Farm war zwar grausam genug, aber die Menschen, die ihre Leichen der Forschung
überlassen hatten, waren eines natürlichen Todes gestorben. Diese Sache war etwas anderes.
Nun wartete der Ernstfall auf uns.
«Es sieht also nach Mord aus?» Wahrscheinlich, sagte ich mir, denn sonst wäre das Tennessee Bureau of Investigation nicht
eingeschaltet worden. Das TBI war praktisch das Landeskriminalamt des Staates Tennessee, eine Unterbehörde des amerikanischen
Bundeskriminalamtes FBI, für das Tom als Berater arbeitete. Da der Anruf von den Staatsbeamten und nicht von der örtlichen
Polizei gekommen war, konnte man davon ausgehen, dass die Sache ernst war.
Tom hielt seinen Blick auf die Straße gerichtet. «Scheint so. Viel hat man mir nicht erzählt, aber es hat sich so angehört,
als wäre die Leiche in einem schlimmen Zustand.»
Ich begann unerklärlicherweise nervös zu werden. «Gibt es keine Probleme, wenn ich mitkomme?»
|22| Tom sah überrascht aus. «Warum sollte es? Ich nehme oft jemanden als Hilfe mit.»
«Ich meine, weil ich Brite bin.» Ich hatte die üblichen Visa und eine Arbeitserlaubnis beantragen müssen, um herzukommen,
aber mit so etwas hatte ich nicht gerechnet. Ich war mir nicht sicher, ob ich bei einer offiziellen Ermittlung willkommen
war.
Er zuckte mit den Achseln. «Ich kann mir nicht vorstellen, warum das ein Problem sein sollte. Der Fall betrifft ja kaum die
nationale Sicherheit, und wenn jemand fragt, bürge ich für dich. Oder du hältst einfach den Mund und hoffst, dass keiner deinen
Akzent bemerkt.»
Lächelnd schaltete er den C D-Player ein. Was für andere Menschen Zigaretten oder Whiskey war, war für Tom Musik. Er behauptete, dass sie ihm nicht nur half,
einen klaren Kopf zu kriegen, sondern auch seine Gedanken zu sammeln. Seine Lieblingsdroge war der Jazz der fünfziger und
sechziger Jahre, und mittlerweile hatte ich die Handvoll Alben, die in seinem Auto lagen, oft genug gehört, um die meisten
wiederzuerkennen.
Während ein Stück von Jimmy Smith rhythmisch aus den Lautsprechern drang, seufzte Tom leise auf und lehnte sich selbstvergessen
zurück.
Ich betrachtete die Landschaft Tennessees, die am Wagen vorbeiglitt. Vor uns erhoben sich die Smoky Mountains, gehüllt in
den bläulichen Dunst, nach dem sie benannt waren. Ihre bewaldeten Hänge erstreckten sich wie ein wogendes, grünes Meer zum
Horizont und bildeten einen starken Kontrast zu den grellen, funktionalen Fastfoodrestaurants, Bars und Supermärkten, die
den Highway säumten und über denen ein Netz aus Stromleitungen verlief.
London und England schienen weit, weit weg zu sein. |23| Mit der Reise hierher wollte ich neuen Lebensmut schöpfen und ein paar der Fragen klären, die mir keine Ruhe ließen. Ich wusste,
dass mir nach meiner Rückkehr einige schwere Entscheidungen bevorstanden. Mein Zeitvertrag an der Universität in London war
während meiner Genesungszeit ausgelaufen. Man hatte mir eine feste Anstellung in Aussicht gestellt, zudem
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