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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Beckett
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des Zahnarztes vor Vögeln und Nagetieren schützte.
     Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Es war später Nachmittag und schon sehr heiß, obwohl es noch früh im Jahr war.
     Alles stand kurz vor der Blüte; in ein |10| oder zwei Wochen würde die Landschaft einen spektakulären Anblick bieten. Noch aber hielten die Birken und Ahorne der Wälder
     Tennessees ihr neues Wachstum zurück.
    Der Hang, an dem ich stand, war nicht weiter bemerkenswert. Landschaftlich ganz schön, wenn auch nicht so spektakulär wie
     die imposanten Bergketten der Smoky Mountains, die sich in der Ferne erhoben. Es war allerdings ein völlig anderer Aspekt
     der Natur, der jeden Besucher hier in Bann schlug. Überall lagen menschliche Leichen in verschiedenen Stadien der Verwesung.
     Im Unterholz, der offenen Sonne ausgesetzt oder im Schatten; die jüngsten noch aufgebläht von den Gasen, die der Verwesungsprozess
     freigesetzt hatte, die älteren ausgedörrt, ledrig. Manche waren im Boden vergraben oder lagen in den Kofferräumen von Autos.
     Andere, wie die, die ich gerade untersucht hatte, wurden durch Netz- oder Drahtgitter geschützt und waren aufgebahrt wie Artefakte
     in einer schaurigen Kunstausstellung. Nur dass dieser Ort einen wesentlich ernsteren Zweck verfolgte. Und nicht für die Öffentlichkeit
     zugänglich war.
    Ich verstaute Messgeräte und Notizblock in meiner Tasche und dehnte meine steif gewordene Hand. Dort, wo das Fleisch bis zum
     Knochen offen gelegen hatte, verlief ein schmaler, blasser Strich, der meine Lebenslinie genau in zwei Hälften teilte. Ziemlich
     passend, wenn man bedachte, dass das Messer letztes Jahr mein Leben beinahe beendet und es grundlegend verändert hatte.
    Ich hängte mir die Tasche über die Schulter und streckte mich. Ein leichtes Zucken im Magen erinnerte mich daran, dass ich
     beim Tragen aufpassen musste. Die Narbe unterhalb meiner Rippen war vollständig verheilt, und in einigen Wochen würde ich
     die Antibiotika absetzen können, die ich in den letzten neun Monaten ständig hatte nehmen müssen. |11| Für den Rest meines Lebens würde ich zwar für Infektionen anfällig sein, ich schätzte mich aber glücklich, außer meiner Milz
     nur einen Teil des Darms verloren zu haben.
    Dafür gab es andere Verluste, mit denen ich wesentlich schwerer zurechtkam.
    Ich überließ den Zahnarzt seiner langsamen Verwesung, ging an einer dunkel verfärbten und aufgeblähten Leiche vorbei, die
     teilweise von Sträuchern verdeckt war, und folgte dem schmalen Pfad, der sich durch die Bäume nach unten schlängelte. Eine
     junge Schwarze in grauem Klinikkittel und Hosen kniete neben einer halbverborgenen Leiche, die im Schatten eines umgestürzten
     Baumstammes lag. Mit einer Pinzette sammelte sie sich windende Larven von den Überresten und ließ sie in einen kleinen, verschraubbaren
     Behälter fallen.
    «Hi, Alana», sagte ich.
    Sie schaute auf und lächelte mich mit gezückter Pinzette an.
    «Hey, David.»
    «Ist Tom in der Nähe?»
    «Das letzte Mal habe ich ihn unten bei den Gruben gesehen. Und pass auf, wo du hintrittst», rief sie hinter mir her. «Dahinten
     in der Nähe der Büsche liegt ein Staatsanwalt im Gras.»
    Ich hob dankend meine Hand und folgte dem Pfad hinab. Er verlief parallel zu einem hohen Maschendrahtzaun, der gut achttausend
     Quadratmeter Waldgebiet umgab. Der Zaun war mit einer Stacheldrahtkrone versehen und durch eine zweite Umfassung aus Holz
     abgeschirmt. Der einzige Zugang war ein großes Tor, an dem ein Schild hing, auf dem in schlichten schwarzen Buchstaben die
     Worte
Anthropology
Research Facility
standen. Die anthropologische Forschungseinrichtung |12| war jedoch besser unter einem anderen, weniger offiziellen Namen bekannt. Die meisten Leute nannten sie nur die
Body Farm.
     
    Die Farm der Leichen.
     
    Eine Woche zuvor hatte ich mit den gepackten Taschen zu Füßen im gefliesten Flur meiner Londoner Wohnung gestanden. Draußen
     in der trüben Frühlingsdämmerung zwitscherten die Vögel. Im Geiste ging ich noch einmal die Liste der Dinge durch, die ich
     nicht vergessen durfte, wohl wissend, dass ich bereits alles erledigt hatte. Die Fenster waren verschlossen, die Postlagerung
     war veranlasst, der Boiler war ausgestellt. Ich spürte eine tiefe, innere Unruhe. Das Verreisen war mir nicht fremd, aber
     dieses Mal war es etwas anderes.
    Wenn ich zurückkam, würde niemand auf mich warten.
    Das Taxi war unpünktlich, aber bis zum Abflug war noch genügend Zeit.

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