Leichenfund - Killer Heat
er sich eher auf fünfzig Jahre einstellen.« Lamont lächelte Grassley an. »Ich vermute, er wird versuchen, so lange wie möglich durchzuhalten.«
Warren funkelte Lamont wütend an und fuhr sich mit der Zunge über die Schneidezähne.
»Bei allem Respekt, Euer Ehren. Ich weiß, dass Sie schon Richter waren, als ich noch gar nicht als Anwalt praktiziert habe.« Grassley hatte seine Laufbahn als Pflichtverteidiger ein paar Jahre vor meinem Berufseinstieg als Staatsanwältin begonnen. »Aber einundsechzigjährige Männer sind keine... sie können keine... also, ich will sagen: Sie sind keine typischen Vergewaltiger.«
»Darf ich etwas sagen, Euer Ehren?«
»Lassen Sie mich ausreden, Alex.« Grassley war einen Kopf kleiner als ich. Er mochte es nicht, wenn ich aufstand, sobald die Geschworenen im Gerichtssaal waren, womöglich aus Angst, meine Körpergröße könnte meinen Argumenten mehr Gewicht verleihen. »Ich weiß, was jetzt kommt, Euer Ehren. Sie wird sagen, dass es einen typischen Vergewaltiger nicht gibt. Ich habe alle ihre Argumente schon x-mal gehört.«
»Darf ich -«
»Natürlich, ältere Männer sind durchaus in der Lage, sich an Kindern zu vergreifen oder ihre Ehefrauen zu verprügeln.« Nach Grassleys Tonfall zu urteilen, hätte man meinen können, diese Delikte seien nicht weiter von Bedeutung. »Ich sage nicht, dass es absolut unmöglich ist. Aber Mr Warren ist angeklagt, über eine Feuerleiter drei Stockwerke hochgeklettert zu sein, sich durch ein schmales Fenster gezwängt und eine gesunde junge Frau sexuell genötigt und vergewaltigt zu haben. Nur mal angenommen, er hätte das tatsächlich getan - wie lange liegt das jetzt zurück? Fünfunddreißig Jahre. Ich wiederhole: fünfunddreißig Jahre. Heute ist er dazu nicht mehr in der Lage. Er stellt für niemanden auch nur annähernd eine Gefahr dar. Es gibt da einen juristischen Grundsatz, vor dem Alexandra Cooper offenbar keinen Respekt hat. Vielleicht können Sie ihrem Gedächtnis nachhelfen?«
»Und welcher wäre das, Mr Grassley?« Richter Lamont nahm seine Brille ab und rieb sich das Nasenbein.
» Rachmones , Euer Ehren.«
»Rach was?« Der Afroamerikaner Alton Lamont, ein ehemaliger Strafverteidiger, war vor über zwanzig Jahren zum Richter am New Yorker Supreme Court - New Yorks höchstem erstinstanzlichen Gericht - ernannt worden. Er legte eine Hand ans Ohr und schüttelte den Kopf.
»Das ist Jiddisch und bedeutet Mitleid.«
Die schwere Tür hinter mir knarrte, und ich drehte mich um. Ein junger Mann in T-Shirt und Jeans kam durch den Mittelgang des Gerichtssaals und setzte sich in eine der leeren Bankreihen.
»Mr Grassley, wenn ich mich recht entsinne, haben Sie sich vor ein paar Monaten in einer anderen Verhandlung mit Ms Cooper darüber beschwert, dass sie zu weich und mitfühlend sei.«
»Das stimmt. Aber ihr Mitgefühl gilt nur den Opfern. Versuchen Sie mal, ganz sachlich mit ihr über einen Angeklagten zu reden, und sie bietet Ihnen nicht einmal ein Glas Wasser an. Sie sieht nur, was sie sehen will.«
Ich sparte mir meine Argumente für die eigentlichen juristischen Streitfragen auf. Um das hier konnte sich Richter Lamont kümmern.
»Und was ist dieses Mal Ihr sachliches Argument? Mir scheint, Mr Warren könnte schon längst alles hinter sich haben, wenn er damals nach dem ersten Verfahren in der Stadt geblieben wäre.« Lamont studierte die Gerichtsakte. »Wenn ich es richtig sehe, haben ihn die Geschworenen beinahe freigesprochen.«
Floyd Warren legte seinen Kopf in die aufgestützten Hände.
Grassley ging hinter mir zur Geschworenenbank und lehnte sich gegen das Geländer. »Neun der Geschworenen hielten ihn für unschuldig, drei für schuldig.«
»Dann verstehe ich nicht, warum sich Ihr Mandant damals aus dem Staub gemacht hat«, sagte Lamont. »Die Beweisführung der Staatsanwaltschaft ist beim zweiten Anlauf nie überzeugender.«
»Noch bevor man den Termin für das Wiederaufnahmeverfahren festsetzte, wurde in Kings County eine weitere Anzeige wegen Vergewaltigung erstattet«, sagte ich von meinem Platz aus. Eine Frau aus Brooklyn hatte das Foto des Angeklagten in der Zeitung gesehen und ihn identifiziert.
»Selbst danach befand sich mein Mandant noch gegen Kaution auf freiem Fuß. So überzeugend kann die Sache nicht gewesen sein.«
Lamont lehnte sich in seinem schwarzen Ledersessel zurück. »Das waren damals völlig andere Zeiten, Mr Grassley. 1973 dürften in dieser Stadt kaum ein Dutzend
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