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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Geräusch, das er je gehört hatte. Lachend und weinend
zugleich drehte er sie auf die Seite und strich ihr das klatschnasse Haar aus dem Gesicht. Er hörte die Schritte, die auf ihn zukamen, doch er blickte nicht einmal auf. Er sah nur Rose, und als sie die Augen aufschlug, war sein Gesicht das Erste, was sie erblickte.
    »Bin ich tot?«, flüsterte sie.
    »Nein.« Er schlang die Arme um ihren zitternden Leib. »Du bist ganz nah mir. Wo du immer sein wirst.«
    Ein Kieselstein rollte über die Erde, und die Schritte erstarben. Erst jetzt blickte Norris auf und sah Eliza Lackaway dastehen. Ihr Cape blähte sich im Wind. Wie Flügel. Wie die Schwingen eines riesigen Vogels. Und ihre Pistole war direkt auf ihn gerichtet.
    »Sie können uns sehen«, sagte Norris mit einem Blick auf die Zuschauer oben auf der Brücke. »Sie werden sehen, wie Sie es tun.«
    »Sie werden sehen, wie ich den West End Reaper töte!« Eliza rief zu der Menge hinauf: »Mr. Pratt! Es ist Norris Marshall!«
    Auf der Brücke wurde erregtes Stimmengewirr laut.
    »Habt ihr das gehört?«
    »Es ist der West End Reaper!«
    Rose versuchte sich mühsam aufzusetzen und klammerte sich an Norris’ Arm. »Aber ich kenne die Wahrheit«, sagte sie. »Ich weiß, was Sie getan haben. Sie können uns nicht beide töten.«
    Elizas Arm schwankte. Sie hatte nur einen Schuss. Während Mr. Pratt und zwei Männer von der Nachtwache schon vorsichtig die steile Uferböschung herunterstiegen, stand sie immer noch unschlüssig da und schwenkte die Pistole zwischen Norris und Rose hin und her.
    »Mutter!«
    Eliza erstarrte. Sie blickte zur Brücke auf, wo ihr Sohn jetzt neben Wendell stand.
    »Mutter, tu’s nicht!«, flehte Charles.
    »Ihr Sohn hat uns alles erzählt«, sagte Norris. »Er weiß,
was Sie getan haben, Mrs. Lackaway. Wendell Holmes weiß es auch. Sie können mich hier und jetzt töten, aber die Wahrheit ist schon heraus. Egal, ob ich lebe oder sterbe, Ihre Zukunft ist bereits entschieden.«
    Langsam ließ sie den Arm sinken. »Ich habe keine Zukunft«, sagte sie leise. »Ob es nun hier endet oder am Galgen, es ist vorbei. Das Einzige, was ich jetzt noch tun kann, ist, meinem Sohn die Schande zu ersparen.« Sie hob die Pistole erneut, aber diesmal war sie nicht auf Norris, sondern gegen ihren eigenen Kopf gerichtet.
    Norris stürzte sich auf sie. Er packte ihr Handgelenk und versuchte ihr die Pistole zu entwinden, doch Eliza leistete Widerstand und wehrte sich mit der Bösartigkeit eines verwundeten Tieres. Erst als Norris ihr den Arm auf den Rücken drehte, ließ sie endlich los. Vor Schmerz aufheulend taumelte sie zurück. Norris stand auf der Uferböschung, allen Blicken gnadenlos ausgesetzt, in der Hand die Waffe. Im nächsten Moment war ihm klar, was nun passieren würde. Er sah Wachmann Pratt anlegen. Er hörte Roses verzweifelten Schrei: » Nein! «
    Die Kugel traf ihn in die Brust und raubte ihm mit einem Schlag den Atem. Die Pistole fiel ihm aus der Hand; er taumelte und fiel hinterrücks in den Schlamm. Eine seltsame Stille legte sich über die Nacht. Norris blickte zum Himmel auf, doch er hörte keine Stimmen, hörte nicht die Schritte, die auf ihn zueilten, nicht einmal das Plätschern der Wellen am Ufer. Alles war ruhig und friedlich. Er sah die Sterne über sich heller funkeln; der Rauch hatte sich verzogen. Er spürte keine Schmerzen, keine Angst, nur ein Gefühl der Verwunderung darüber, dass all seine Kämpfe, all seine Träume auf diesen einen Moment hinauslaufen sollten, hier am Flussufer, mit dem Sternenzelt, das sich über ihm wölbte.
    Und dann, wie aus weiter Ferne, hörte er eine liebliche und vertraute Stimme, und er sah Rose, ihr Kopf von Sternen umringt, als ob sie vom Himmel auf ihn herabblickte.
    »Können Sie denn gar nichts tun?«, schrie sie. »Bitte, Wendell, Sie müssen ihn retten!«

    Nun hörte er auch Wendells Stimme, hörte, wie sein Hemd aufgerissen wurde. »Bringt die Lampe näher! Ich muss die Wunde sehen!«
    Warmes gelbes Licht ergoss sich über ihn, und als die Wunde freigelegt war, sah Norris Wendells Gesichtsausdruck, und er las die Wahrheit in seinen Augen.
    »Rose?«, flüsterte Norris.
    »Ich bin hier. Ich bin hier bei dir.« Sie nahm seine Hand und beugte sich über ihn, um sein Haar zu streicheln. »Du wirst durchkommen, mein Schatz. Du wirst wieder gesund, und wir werden glücklich sein. Wir werden so glücklich sein.«
    Er seufzte und schloss die Augen. Er konnte sehen, wie Rose ihm entschwebte,

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