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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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hatten Mühe, sich auf dem Bock zu halten.
    »Fahr langsamer, um Himmels willen!«, rief Wendell. »Es
wäre fatal, hier mit einer gebrochenen Achse liegen zu bleiben. So nahe an Boston könnte es sein, dass dich jemand erkennt.«
    Aber Norris zügelte das Pferd nicht, obwohl es schon schwer keuchte und an diesem Abend noch eine lange Wegstrecke vor sich hatte.
    »Es ist tollkühn von dir, in die Stadt zurückzukehren«, sagte Wendell. »Du solltest lieber zusehen, dass du sie so weit wie möglich hinter dir lässt.«
    »Ich lasse Rose nicht bei ihm.« Norris lehnte sich nach vorn, als könne er ihr kleines Gig durch schiere Willensanstrengung noch schneller machen. »Ich habe geglaubt, sie wäre dort sicher. Ich glaubte sie zu schützen. Stattdessen habe ich sie dem Mörder direkt in die Hände geliefert.«
    Die Brücke lag vor ihnen. Eine kurze Fahrt über den Charles River, und Norris wäre zurück in der Stadt, aus der er erst gestern geflüchtet war. Aber heute Abend bot diese Stadt ein ganz anderes Bild. Er ließ das erschöpfte Pferd im Schritt weitergehen und blickte über das Wasser hinweg auf den Nachthimmel, der sich orange verfärbt hatte. Am Westufer des Charles hatte sich eine kleine, aber erregte Menschenmenge versammelt, um zu beobachten, wie die Flammen in der Ferne den Horizont erhellten. Selbst in dieser Entfernung vom Brandort war die Luft bereits schwer vom Geruch des Rauchs.
    Ein Junge lief an ihrer Kutsche vorbei, und Wendell rief ihm zu: »Wo brennt es denn?«
    »Hancock’s Wharf, heißt es! Es werden Freiwillige gesucht, um das Feuer zu bekämpfen!«
    Was bedeutet, dass anderswo in der Stadt weniger Menschen unterwegs sein werden, dachte Norris. Weniger Gefahr, dass ich erkannt werde. Dennoch klappte er seinen Mantelkragen hoch und zog die Hutkrempe tief in die Stirn, als sie über die West Boston Bridge fuhren.
    »Ich gehe zur Tür, um sie zu holen«, sagte Wendell. »Du bleibst beim Wagen.«

    Norris starrte geradeaus, und seine Hände krampften sich um die Zügel. »Es darf nichts schiefgehen. Schaff sie nur aus diesem Haus heraus.«
    Wendell fasste seinen Freund am Arm. »Ehe du dich’s versiehst, wird sie hier neben dir sitzen, und ihr werdet euch gemeinsam auf den Weg machen.« Bedauernd fügte er hinzu: »Mit meinem Pferd.«
    »Ich werde irgendwie dafür sorgen, dass du den Gaul wiederbekommst. Ich schwöre es, Wendell.«
    »Nun ja, Rose glaubt jedenfalls an dich. Das sollte mir genügen.«
    Und ich glaube an sie.
    Ihr Pferd trappelte von der Brücke herunter auf die Cambridge Street. Direkt vor sich sahen sie den Feuerschein der brennenden Hafenanlagen, und die Straße wirkte unheimlich verlassen, während die Luft von Rauch und schwarzen Aschepartikeln immer dicker wurde. Sobald er und Rose die Stadt hinter sich gelassen hätten, würden sie sich nach Westen aufmachen, um Meggie zu holen. Bei Sonnenaufgang würden sie Boston schon weit hinter sich gelassen haben.
    Er lenkte das Pferd nach Süden, auf die Beacon Street zu. Selbst hier waren die nächtlichen Straßen merkwürdig menschenleer, und der Rauchgeruch verstärkte noch die unheilschwangere Atmosphäre. Die Luft selbst schien sich um Norris zusammenzuziehen wie eine immer enger werdende Schlinge. Grenvilles Haus lag jetzt direkt vor ihnen, und als sie sich der Eingangstür näherten, bäumte das Pferd sich plötzlich auf, erschreckt durch einen vorbeihuschenden Schatten. Norris zerrte an den Zügeln, als der Einspänner ins Schlingern geriet und sich zur Seite neigte. Endlich brachte er das Gefährt wieder unter Kontrolle. Und da erst sah er, was dem Tier einen solchen Schrecken eingejagt hatte.
    Charles Lackaway, nur mit einem Nachthemd bekleidet, stand im Vorgarten und starrte Norris benommen an. »Du bist zurückgekommen«, murmelte er.
    Wendell sprang vom Wagen. »Lass ihn einfach nur Rose mitnehmen
und sag niemandem etwas. Bitte, Charlie. Lass sie mit ihm gehen.«
    »Das kann ich nicht.«
    »Herrgott, ich dachte, du bist mein Freund . Er will doch nur Rose mitnehmen.«
    »Ich glaube...« Charles’ Stimme brach schluchzend. »Ich glaube, sie hat sie umgebracht.«
    Norris kletterte vom Bock, packte Charles am Kragen seines Nachthemds und drückte ihn gegen den Zaun. »Wo ist Rose?«
    »Meine Mutter – sie und dieser Mann haben sie mitgenommen...«
    » Wohin? «
    »Zur Prison Point Bridge«, flüsterte Charles. »Ich fürchte, es ist zu spät.«
    Im nächsten Moment war Norris wieder auf dem Kutschbock. Er wartete nicht

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