Leichenraub
Haare fielen ihr ins Gesicht und klebten in Strähnen an ihrer schweißnassen Haut, während sie schaufelte und kratzte und der Tunnel immer tiefer wurde. Noch bevor Richard das Grundstück zu sehen bekäme, würde sie es in ein Paradies verwandeln. Es blieben ihr noch zwei Monate, bis sie sich das nächste Mal einem Raum voller Drittklässler stellen musste. Zwei Monate, um dieses Unkraut herauszureißen, den Boden zu düngen und Rosen zu pflanzen. Richard hatte ihr prophezeit, wenn sie je in ihrem Garten in Brookline Rosen pflanzen sollte, würden sie mit Sicherheit eingehen. »Da muss man schon ein bisschen Ahnung haben«, hatte er gesagt – nur eine hingeworfene Bemerkung, aber geschmerzt hatte sie dennoch. Sie wusste, was er in Wirklichkeit meinte.
Man muss Ahnung haben – und du hast keine.
Sie legte sich auf den Bauch und hackte unermüdlich weiter, bis ihre Pflanzkelle auf etwas Hartes stieß. O Gott, nicht noch ein Stein. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und starrte den Gegenstand an, auf den ihr Werkzeug gerade getroffen war. Das spitze Metallblatt hatte eine glatte Fläche beschädigt, und feine Risse strahlten von dem Punkt aus, an dem die Kelle aufgetroffen war. Sie wischte Erde und Kiesel beiseite und legte eine unnatürlich glatte Kuppel frei. Flach auf dem Bauch liegend, spürte sie, wie ihr Herz gegen die Erde schlug, und sie hatte plötzlich Mühe, Luft zu bekommen. Doch sie grub weiter, mit beiden Händen jetzt, und ihre behandschuhten Finger wühlten sich durch den hartnäckigen
Lehm. Immer größere Teile des kuppelförmigen Objekts kamen ans Tageslicht, gerundete Flächen, zusammengefügt mit einer gezackten Naht. Tiefer und tiefer scharrte sie, und ihr Puls ging schneller, als sie einen kleinen, mit Erde gefüllten Hohlraum entdeckte. Sie zog den Handschuh aus und stieß mit dem bloßen Finger die harte Lehmkruste an. Plötzlich brach der Klumpen auseinander, und die Krümel rieselten herab.
Julia fuhr zurück, schnellte auf die Knie hoch und starrte das Ding an, das sie soeben freigelegt hatte. Das Sirren der Mücken schwoll zu einem Kreischen an, doch sie wedelte sie nicht weg, zu betäubt, um ihre Stiche zu spüren. Ein Windhauch strich über das Gras und ließ den süßlichen Duft von wilden Möhren aufsteigen. Julia hob den Blick und betrachtete ihr unkrautüberwuchertes Grundstück, dieses Stück Land, das sie in ein Paradies verwandeln wollte. Sie hatte von einem üppigen Garten voller Rosen und blühender Stauden geträumt, von einer Gartenlaube, umrankt von rosa Clematis. Doch als sie jetzt den Blick darüber schweifen ließ, sah sie keinen Garten mehr.
Sie sah einen Friedhof.
»Du hättest mich um Rat fragen können, bevor du diese Bruchbude gekauft hast«, sagte ihre Schwester Vicky, die an Julias Küchentisch saß.
Julia stand am Fenster und starrte hinaus auf die zahlreichen Erdhaufen in ihrem Garten, die wie Mini-Vulkane aus dem Boden gesprossen waren. Seit drei Tagen war das Team vom Rechtsmedizinischen Institut nun schon zugange, hatte sich in ihrem Garten quasi häuslich eingerichtet. Sosehr hatte sie sich schon daran gewöhnt, dass sie alle naselang durch ihr Haus stapften, um die Toilette zu benutzen, dass sie sie regelrecht vermissen würde, wenn die Ausgrabungen abgeschlossen waren und sie es endlich wieder für sich allein hatte, dieses Haus mit seinen handgeschnitzten Deckenbalken und seiner Geschichte. Und seinen Geistern.
Dr. Isles, die Rechtsmedizinerin, war gerade eingetroffen und kam auf die Grabungsstätte zu. Julia fand die Frau irgendwie irritierend, mit ihrer Art, die weder freundlich noch unfreundlich war, dem gespenstisch bleichen Teint und dem rabenschwarzen Haar. Sie sieht so ruhig und gefasst aus, dachte Julia, als sie die Frau durchs Fenster beobachtete.
»Das ist doch sonst nicht deine Art, die Dinge so zu überstürzen«, meinte Vicky. »Du schaust dir was an und machst noch am selben Tag ein Angebot? Hast du gedacht, jemand anders könnte es dir wegschnappen?« Sie deutete auf die windschiefe Kellertür. »Die schließt ja nicht mal richtig. Hast du dir mal die Fundamente angesehen? Dieses Haus hat doch sicher seine hundert Jahre auf dem Buckel.«
»Hundertdreißig«, murmelte Julia, ohne den Blick vom Garten zu wenden, wo Dr. Isles jetzt am Rand der Grube stand.
»Ach, Schatz«, sagte Vicky mit sanfterer Stimme, »ich weiß, dass es ein schwieriges Jahr für dich war, und kann mir vorstellen, was du zurzeit durchmachst. Ich
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