Leichenraub
wer du bist.
2
November 1830
Der Tod trat ein, begleitet von lieblichem Glockengeläut.
Rose Connolly hatte gelernt, diesen Klang zu fürchten; allzu oft hatte sie ihn schon gehört, wenn sie am Krankenbett ihrer Schwester saß, wenn sie Aurnias Stirn trocknete, ihr die Hand hielt oder ihr einen Schluck Wasser zu trinken gab. Tag für Tag kündigten diese verfluchten Glocken, geläutet von einem Ministranten, die Ankunft des Pfarrers im Krankensaal an, wo er die Kommunion austeilte und das Sakrament der Letzten Ölung spendete. Obgleich erst siebzehn Jahre alt, hatte Rose in den letzten fünf Tagen genug Tragödien für mehr als nur ein Menschenleben mit angesehen. Am Sonntag war Nora gestorben, drei Tage nachdem sie ihr Baby zur Welt gebracht hatte. Am Montag war es das Mädchen mit den braunen Haaren am anderen Ende des Krankensaals gewesen. So bald nach der Niederkunft war sie dem Fieber erlegen, dass Rose keine Gelegenheit gehabt hatte, ihren Namen in Erfahrung zu bringen – nicht, solange die Familie schluchzend am Bett der Toten stand, das Neugeborene schrie wie eine verbrühte Katze und der vielbeschäftigte Sargtischler im Hof hämmerte. Am Dienstag, nach vier Tagen Fieberqualen, die mit der Geburt eines Sohnes endeten, war Rebecca endlich von ihren Leiden erlöst worden, aber erst, nachdem Rose gezwungen worden war, den Gestank des fauligen Ausflusses einzuatmen, der zwischen den Beinen des Mädchens hervorsickerte und die Laken verkrustete. Der ganze Saal roch nach Schweiß, Fieber und Eitergeschwüren. Zu später Stunde, wenn das Stöhnen der Sterbenden durch die Korridore hallte, schreckte Rose oft aus ihrem Erschöpfungsschlaf hoch, nur
um festzustellen, dass die Wirklichkeit noch entsetzlicher war als ihre Albträume. Nur wenn sie in den Hof des Krankenhauses hinaustrat und die kalte, neblige Luft tief einatmete, konnte sie den üblen Dünsten der Entbindungsstation entfliehen.
Aber immer wieder musste sie an den Ort des Schreckens zurückkehren. Zu ihrer Schwester.
»Schon wieder die Glocken«, flüsterte Aurnia, und ihre eingefallenen Lider flatterten. »Welche arme Seele ist es diesmal?«
Rose blickte zum anderen Ende der Entbindungsstation, wo man hastig einen Vorhang um eines der Betten gezogen hatte. Vor wenigen Augenblicken hatte sie beobachtet, wie Schwester Mary Robinson den kleinen Tisch vorbereitet und Kerzen und Kruzifix bereitgestellt hatte. Obwohl sie den Pfarrer nicht sehen konnte, hörte sie sein Gemurmel hinter dem Vorhang, und sie konnte das heiße Kerzenwachs riechen.
»Durch die große Güte Seiner Gnade möge der Herr dir alle Sünden vergeben, die du begangen …«
»Wer?«, fragte Aurnia wieder. Voller Unruhe versuchte sie sich aufzusetzen und über die Reihe von Betten hinwegzusehen.
»Ich fürchte, es ist Bernadette«, sagte Rose.
»Oh! Oh, nein!«
Rose drückte die Hand ihrer Schwester. »Sie kann immer noch durchkommen. Hab ein wenig Hoffnung.«
»Das Kind! Was ist mit ihrem Kind?«
»Der Junge ist gesund. Hast du ihn nicht heute Morgen in seinem Bettchen schreien hören?«
Aurnia ließ sich seufzend auf das Kopfkissen zurücksinken, und der Atem, der ihrem Mund entströmte, trug den üblen Geruch des Todes in sich, als ob ihr Körper bereits von innen her verfaulte, ihre Organe sich zersetzten. »Nun, das ist immerhin ein kleiner Segen.«
Ein Segen? Dass der Junge als Waise aufwachsen würde? Dass seine Mutter die letzten drei Tage unentwegt vor Schmerzen
gewimmert hatte, mit ihrem vom Kindbettfieber aufgetriebenen Bauch? Rose hatte in den letzten sieben Tagen viel zu viele Beispiele solchen Segens zu Gesicht bekommen. Wenn das ein Zeichen Seiner Güte war, dann wollte sie mit Ihm nichts zu schaffen haben. Aber solche blasphemischen Gedanken sprach sie in Gegenwart ihrer Schwester nicht aus. Es war der Glaube, der Aurnia in den vergangenen Monaten Kraft gegeben, der ihr geholfen hatte, die Nächte durchzustehen, wenn Rose sie hinter der Decke, die zwischen ihren Betten aufgehängt war, leise hatte weinen hören. Aber was hatte ihr Glaube der armen Aurnia letztlich genutzt? Wo war Gott in diesen Tagen, da Aurnia sich vergeblich quälte, um ihr erstes Kind zur Welt zu bringen?
Wenn du die Gebete einer guten Frau hörst, Gott, warum lässt du sie dann leiden?
Rose erwartete keine Antwort, und sie bekam keine. Alles, was sie hörte, war das nutzlose Gemurmel des Pfarrers hinter dem Vorhang, der Bernadettes Bett abschirmte.
»Im Namen des Vaters und des
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