Leichenraub
Sohnes und des Heiligen Geistes, möge alle Macht des Teufels in dir ausgelöscht sein, durch das Auflegen meiner Hände und durch die Anrufung der glorreichen und heiligen Jungfrau Maria, Mutter Gottes …«
»Rose?«, flüsterte Aurnia.
»Ja, mein Herz?«
»Ich fürchte sehr, dass auch für mich die Zeit gekommen ist.«
»Die Zeit wofür?«
»Für den Pfarrer. Die Beichte.«
»Und welche kleinen Sünden können dich denn wohl plagen? Gott kennt deine Seele, mein Herz. Denkst du, Er sieht nicht, wie gut du bist?«
»Ach Rose, du weißt ja nicht, was ich mir alles habe zuschulden kommen lassen! So vieles, was ich mich schäme, dir zu sagen! Ich kann nicht sterben, ohne …«
»Red mir nicht vom Sterben. Du darfst nicht aufgeben. Du musst kämpfen .«
Aurnia antwortete mit einem matten Lächeln und hob die Hand, um ihrer Schwester übers Haar zu streichen. »Meine kleine Rosie. Dir hat man noch nie so leicht Angst machen können.«
Aber Rose hatte Angst. Schreckliche Angst, dass ihre Schwester sie verlassen würde. Panische Angst, dass Aurnia, wenn sie einmal den letzten Segen erhalten hätte, den Kampf aufgeben und sich in ihr Schicksal fügen würde.
Aurnia schloss die Augen und seufzte. »Wirst du heute Nacht wieder bei mir bleiben?«
»Ganz bestimmt werde ich das.«
»Und Eben? Ist er nicht gekommen?«
Roses Finger krampften sich um Aurnias Hand. »Willst du ihn wirklich hier haben?«
»Wir sind einen heiligen Bund eingegangen, er und ich. In guten wie in schlechten Tagen.«
Meistens in schlechten , hätte Rose am liebsten gesagt, doch sie hütete ihre Zunge. Eben und Aurnia mochten ein Ehepaar sein, aber es war besser, wenn er sich hier nicht blicken ließ, denn Rose fand die Gegenwart dieses Mannes schier unerträglich. Die letzten vier Monate hatte sie mit Aurnia und Eben in einem Logierhaus in der Broad Street gewohnt, wo Rose ihr Lager in einem winzigen Alkoven hatte, der an das Schlafzimmer der beiden grenzte. Sie hatte versucht, Eben aus dem Weg zu gehen, doch nachdem Aurnia durch die Schwangerschaft schwerfällig und müde geworden war, hatte Rose mehr und mehr von den Pflichten ihrer Schwester in Ebens Schneiderwerkstatt übernommen. Im engen Hinterzimmer der Werkstatt, zwischen Ballen von Musselin und Wolltuch, hatte sie die verstohlenen Blicke ihres Schwagers aufgefangen, und ihr war nicht entgangen, wie oft er scheinbar zufällig ihre Schulter streifte oder allzu dicht hinter ihr stand, um ihre Stiche zu begutachten, wenn sie sich mit dem Nähen von Hosen und Westen abplagte. Sie hatte Aurnia nichts davon erzählt, denn sie wusste, dass Eben alles leugnen würde. Und am Ende wäre es doch nur Aurnia, die darunter zu leiden hätte.
Rose wrang einen Lappen über der Schüssel aus, und als sie ihn auf Aurnias Stirn drückte, fragte sie sich: Wo ist meine schöne Schwester geblieben? Nach nicht einmal einem Jahr Ehe war das Licht in Aurnias Augen schon erloschen, der Glanz ihres feuerroten Haars verblasst. Geblieben war nur diese teilnahmslose Hülse, das Haar von Schweiß verfilzt, das Gesicht eine stumpfe Maske der Resignation.
Kraftlos zog Aurnia ihren Arm unter der Decke hervor. »Ich möchte dir das hier schenken«, hauchte sie. »Nimm es jetzt, bevor Eben es sich nimmt.«
»Was denn, mein Herz?«
»Das.« Aurnia berührte das herzförmige Medaillon, das sie um den Hals trug. Es hatte den unverkennbaren Glanz von echtem Gold, und Aurnia trug es Tag und Nacht. Ein Geschenk von Eben, nahm Rose an. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte seine Frau ihm immerhin so viel bedeutet, dass er ihr dieses ausgefallene Schmuckstück geschenkt hatte. Warum war er jetzt nicht hier, da sie ihn am meisten brauchte?
»Bitte. Hilf mir, es abzunehmen.«
»Behalt es – es ist noch nicht an der Zeit, es herzugeben«, sagte Rose.
Aber Aurnia hatte sich schon selbst das Halsband abgezogen und drückte ihrer Schwester das Medaillon in die Hand. »Es gehört dir. Als Dank für all den Trost, den du mir gespendet hast.«
»Ich werde es für dich aufbewahren, das ist alles.« Rose steckte das Schmuckstück in ihre Tasche. »Wenn das alles überstanden ist, wenn du dein süßes kleines Baby im Arm hältst, werde ich es dir wieder um den Hals legen.«
Aurnia lächelte. »Ach, könnte es nur so sein.«
»Es wird so sein.«
Das leiser werdende Klingen der Glocken zeigte an, dass der Pfarrer seine Riten für die sterbende Bernadette beendet hatte. Rasch eilte Schwester Robinson herbei, um den Vorhang
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