Leichenroulette - Roman
erfuhr mein Leben eine dramatische Wende. Und zwar zum Schlechteren. Eine harte Zeit brach für mich an. Zuerst verließ mich Mizzi, die heitere Gefährtin vieler lustiger Stunden. Ihre Eltern hatten noch den Abschluss der Volksschule abgewartet, dann übersiedelten sie samt Tochter nach Wien, wo sie sich bessere Verdienstmöglichkeiten erhofften. Der Rest der Bande war aufgrund mangelnden Bildungshungers und dementsprechend schlechter schulischer Leistungen für die Hauptschule und anschließend für eine handwerkliche Lehre vorgesehen. Raini und Günther sollten nach dem Vorbild ihres Vaters den Installateursberuf erlernen, Otti einmal die elterliche Bäckerei übernehmen, Waldi in die Fleischerei seines Onkels eintreten, und der etwas begriffsstutzige Seppi sah einer Zukunft als Maurer entgegen. Erstaunlich rasch entglitten sie meiner strengen Führung, schlossen Freundschaft mit anderen Buben – wir entfremdeten uns zusehends. Bald wurde klar: Die schönen Tage wilder Streiche gehörten für immer der Vergangenheit an, die Kindheit näherte sich rapide ihrem Ende. Der Ernst des Lebens begann. Oft sah ich meine einstigen »Vasallen« vor ihren Häusern beim fachkundigen Zerlegen und Reparieren ihrer Fahrräder, hörte, wie sie über ordinäre Witze lachten. Unter meinem Regime wäre dies nicht möglich gewesen! Traf ich sie zufällig auf der Straße, mieden sie mich. In ihren Augen war ich als Gymnasiastin »etwas Besseres«.
Damit saß ich zwischen zwei Stühlen, gleichsam im Niemandsland. Zwischen mir und meinen alten Freun den hatte sich eine tiefe Kluft aufgetan. Eine ebensolche trennte mich von meinen neuen Klassenkameradinnen, die meisten von ihnen Fahrschülerinnen aus der näheren und weiteren Umgebung unserer Bezirkshauptstadt. Im Unterschied zu mir stammten sie aus »besseren« Kreisen, hatten Ärzte, Rechtsanwälte oder gut situierte Geschäftsleute als Eltern. Die »höheren Töchter« trugen modisch schwingende, teure Kleider samt steifer Unterröcke. Unter toupierten Frisuren blickten sie voll Hochmut auf mich herab – ich war für mein Alter eher klein. Einige waren, was eine zunehmend wichtige Rolle spielen sollte und von mir nicht geleugnet wurde, hübsch, viel hübscher als ich selbst. Auf jeden Fall schlanker.
Zum ersten Mal kamen mir auch Standesunterschiede zu Bewusstsein. Geld, bis dahin eine Neben sächlichkeit, gewann plötzlich an Bedeutung. Über das Gehalt, das mein Vater pünktlich jeden Ersten vom Staat erhielt, wurde nie mit mir gesprochen. Sein Beamtenstatus mit Pensionsberechtigung entsprach dem Wunsch meiner Eltern nach finanzieller Sicherheit. Beide hatten vor und nach dem Zweiten Weltkrieg schwere, entbehrungsreiche Zeiten erlebt, nun waren sie mit ihrer Existenz vollkommen zufrieden. Der Tradition entsprechend, verfuhren sie mit der väterlichen »Besoldung«, wie es damals noch hieß, nach einer einfachen Regel – zwei Drittel gaben sie für das tägliche Leben aus, ein Drittel legten sie als Notgroschen auf ein Sparbuch.
Ich selbst verwaltete mein Taschengeld, wie mir schien, meisterlich, sparte einen Teil und verprasste den Rest beim Konditor. Es war eine große Freude, in das kleine Geschäft von Herrn Maxer einzutreten und mich beraten zu lassen. »Bitte, was krieg ich für einen Schilling?« Der Zuckerbäcker liebte Kinder. Geduldig und wohlwollend machte er Vorschläge. »Zehn Stollwerck oder eine kleine Tafel Bensdorp-Schokolade, fünf Deka Seidenzuckerl – oder möchtest du lieber ein Eis?« Mir fehlte nichts, bis mir die neue Umgebung die Ärmlichkeit unseres Lebens vor Augen führte. Ich schämte mich.
Mit den reichen Mädchen aus meiner Klasse konnte ich nicht konkurrieren. Sie zu beeindrucken, ja, sie zu dominieren war ein Ding der Unmöglichkeit.
Einsam, unglücklich und ausgeschlossen, tröstete ich mich an langen, eintönigen Nachmittagen mit Essen und noch mehr Essen. Meine plumpe Erscheinung trug nichts zur Verbesserung meiner Situation bei. In »Leibesübungen« wurde ich zum allgemeinen Gespött, da es mir einfach unmöglich war, das Reck zu erklimmen. Bei Wettläufen keuchte ich stets als Letzte ins Ziel. Zu Partys, von denen sich die anderen Mädchen in einem Winkel des Klassenzimmers geheimnisvoll wispernd erzählten, lud man mich nicht ein.
Mein freches Selbstbewusstsein schwand dahin, ich wurde verklemmt und schüchtern. Schweißgebadet schreckte ich des Nachts aus fürchterlichen Albträumen hoch, in denen ich zitternd vor Angst bei
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