Leichenroulette - Roman
in unserer Klasse hängenden farbigen Schautafeln biblischer Szenen aus dem Alten Testament als Warnung vor Augen. Wie grausam wurden damals Sünder bestraft! Wie war das mit Sodom und Gomorrha? Lots Weib erstarrte zur Salzsäule, nur weil sie sich verbotenerweise umdrehte und zurückschaute. Und Kain? Trug der nicht ein Mal? Besser, sich nicht der unberechenbaren Gnade der katholischen Kirche auszuliefern. Außerdem, welches der Zehn Gebote hatte ich denn überhaupt verletzt? Ich glaubte an Einen Gott, begehrte nicht des Nächsten Frau, legte nicht Zeugnis ab gegen meinen Nächsten und heiligte mit Freude den Tag des Herrn, an dem es keine Hausaufgaben zu erledigen gab!
Wenig später wurden wir geschlossen in das Gotteshaus geführt. Als die Reihe an mich kam, kniete ich im halbdunklen Beichtstuhl vor dem Priester nieder. Nach der eingelernten Formel: »Ich bekenne vor Gott, dass ich folgende Sünden begangen habe«, gestand ich alle meine kleinen Verfehlungen. Der vom Ansturm beichtender Schüler und ihren stereotyp heruntergeleierten Bekenntnissen schon etwas ermüdete alte Pfarrer hörte mir zerstreut zu, dann erteilte er mir diskret murmelnd die Absolution. Als Buße hat er mir drei Vaterunser und fünf Ave Maria auferlegt. Ich betete inbrünstig vor dem Altar, während Christus vom Kreuz auf mich herabblickte. Nichts geschah! Anscheinend hatte mir der Allmächtige verziehen. Zeit, auch mir selbst zu verzeihen. Erleichtert verließ ich mit gemessenen Schritten die heilige Stätte.
Der dramatische Abgang des gefürchteten Hahn Peter brachte mancherlei Vorteile mit sich. Ungehindert streunten wir nun über den großen Hauptplatz, um die wenigen dort geparkten Autos zu bestaunen. Vor allem ein zweifarbiger »Borgward Isabella« in Rosa und Hellblau hatte es uns angetan. Wir besichtigten ihn von allen Seiten, gingen um ihn herum, bewunderten jedes Detail. Ich weiß nicht, was mich überkam, aber ich zückte mein kleines Messerchen und kratzte damit ein paar Mal durch den glänzenden Lack. Meine Freun desrunde johlte, Mizzi kicherte vor sich hin.
Den Wunsch, vielleicht selbst einmal ein derartiges Luxusgefährt zu besitzen, äußerten wir nicht. Er kam gar nicht auf, denn er schien uns zu vermessen.
Weihnachten erlebte ich als eine geradezu magische Zeit. Am Nachmittag des Heiligabend, der sich in Erwartung des Christkinds endlos lang hinzog, nisteten Mizzi und ich uns immer bei der Familie Prosch ein, wo wir ohne Anmeldung oder Einladung stets willkom men waren. Man klopfte einfach an die Wohnungstür, fragte ob Raini oder Günther zu Hause seien, wurde eingelassen und gehörte dazu. Im einzigen größeren Zimmer zeichneten wir auf dem Ess- und Arbeitstisch mit Aquarellfarben hingebungsvoll goldene Engel auf Schablonen, widmeten uns aber auch, wenn man uns allein ließ, ganz anderen und viel spannenderen Dingen. Herr Prosch besaß aus Militärbeständen ungeklärter Herkunft noch mehrere Revolver samt Munition aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, die er uns schon öfter mit Stolz vorgeführt hatte. Die holten wir in seiner Abwesenheit aus dem unversperrten Kasten hervor, gingen damit in den Keller, luden sie, wie Herr Prosch es uns gezeigt hatte, mit scharfer Munition und schossen zum Zeitvertreib an wenig einsichtigen Stellen auf Ziele in den meterdicken Hauswänden. Ich entpuppte mich als gute Schützin.
Etwa um fünf Uhr, wenn die Spannung bereits unerträglich geworden war, hörten wir ein Glöcklein läuten. »Das Christkind war da!« Ich verabschiedete mich schnell von meinen Freunden, stürzte die Stiege hinunter und hinein in das Schlafzimmer meiner Eltern, wo mich die Pracht eines Lichterbaums überwältigte. Und erst die darunter ausgebreiteten Geschenke! Und der überirdische Duft von Kerzen. Alles war wunderbar.
Den Rest des Abends probierte ich die neue prakti sche Kleidung und ärgerte mich ein wenig, dass ich an stelle der gewünschten roten Schuhe wieder nur braune bekommen hatte. Dann packten wir das DKT – Das kaufmännische Talent – aus und spielten, gewannen und verloren Häuser, Hotels, Straßen, ja, ganze Städte. Viel später als üblich, umweht von dem köstlichen Duft der gelöschten Kerzen des Christbaums, kroch ich unter die warme Daunendecke meines Betts und schlief zufrieden ein. Gab es noch Schöneres?
Kapitel 2
2
Mit dem Eintritt in das Realgymnasium, wohin mein bildungsgläubiger Vater mich als gute Schülerin nach eingehender Beratung mit meiner Lehrerin schickte,
Weitere Kostenlose Bücher