Einfach losfahren
Intro
Ich bin im Krankenhaus. Sitze auf einem unbequemen Stuhl in einem Warteraum, der auf den Innenhof hinausgeht. Alles ist ruhig. Still und sauber.
Francesca liegt nebenan. Sie bringt gerade unsere Tochter zur Welt. Alice. Ich bin aufgeregt, besorgt. Denke an die beiden, denke an mich. Ich liebe Francesca. Sie ist ein Archipel. Eine Ansammlung wunderbarer Inseln, und ich schippere hindurch und erkunde die Vielfalt ihrer sanften Formen. Ich kenne all ihre Schattierungen, jedes winzige Detail. Ich kenne ihr Schweigen, ihre Freude. Ihre tausend Düfte, den Hauch ihrer Küsse, ihren liebevollen Blick auf meiner Haut. Ich liebe die Schnörkel ihrer Handschrift. Das Leuchten ihrer nackten Schultern und ihre Halsbeuge, der ich meine geheimsten Gedanken anvertraut habe. Ihre Hände, die Augenblicke der Ewigkeit in mir erschaffen können. Ich bin verzaubert von den Landschaften, in die sie mich führt, wenn sie mich umarmt. Landschaften, die ich kenne, ohne je dort gewesen zu sein. Und obwohl mir all das vertraut ist, bin ich immer wieder aufgeregt und muss immer wieder staunen. Ich rede wie ein alter Süßholzraspler, ich weiß, langweilig und pathetisch bin ich. Aber ich glaube, das ist ganz normal, wenn man zu dem Schuh, den man seit Jahren in der Hand hält, endlich den passenden Fuß gefunden hat.
Francesca hat gesagt, dass sie mich liebt, und ich glaube ihr. Nicht nur, weil sie es sagt, sondern weil ich es in vielem spüre, in kleinen Gesten, unbewussten Aufmerksamkeiten. Es dringt gar nicht in ihr Bewusstsein, so wie das Meer nicht weiß, dass es das Meer ist. Wenn ich mit ihr zusammen bin, habe ich oft Lust, zu pfeifen oder ein Liedchen zu trällern, und auch daran merke ich, dass sie mich liebt. Vor ein paar Stunden haben wir noch einen Spaziergang durch unser Viertel gemacht. Solche Momente schenken wir uns oft. Es tut uns gut, nachts zusammen spazieren zu gehen. Wir reden dann über uns und darüber, wie wir diesen wichtigen Abschnitt in unserem Leben gestalten wollen. Wir teilen unsere Empfindungen. Wenn wir etwas erleben, das uns bewegt, tauschen wir uns darüber aus, damit es sich uns besser einprägt. Manchmal schweigen wir auch beim Gehen, sagen kein Wort.
Da wir uns lieben, haben wir häufig gute Gründe zu schweigen. Diese Spaziergänge unternehmen wir nicht erst, seit Francesca schwanger ist, das haben wir schon immer getan. Besonders im Sommer, weil wir gern die Fernsehgeräusche durch die geöffneten Fenster hören. Manchmal bleiben wir eine Weile stehen, um den Sendungen zu lauschen und dem Widerschein des Lichts zuzuschauen, das von den Fernsehern an die Wände geworfen wird. Heute Nacht blieben wir vor der Bäckerei bei uns um die Ecke stehen. Es ist erst Mai, und die Geräusche der Fernseher dringen noch nicht nach draußen. Neben der Bäckerei liegt die Backstube. Auf der anderen Straßenseite steht immer ein Stuhl. Damit der Parkplatz für den Lieferanten freigehalten wird. Ich setzte mich, Francesca im Arm. Alles war eine einzige Liebkosung: das Licht des nahenden Morgens, der Wind, der Duft des Brotes, die Geräusche der Bäcker. Ich sah ihr in die Augen, jene Augen, durch die auch ich seit einiger Zeit die Welt sehe. Ich schnupperte an ihrem Hals wie ein Matrose, der morgens den Geruch des Meeres einsaugt. In ihrem Bauch bewegte sich etwas. Auf dem Heimweg merkte Francesca, dass es nun vielleicht so weit war, und wir fuhren hierher. In diesem Warteraum denke ich über mein Leben nach, wie es sich verändern wird, und versuche zu begreifen, was es bedeutet, ein Kind zu haben. Für immer.
Vieles aus meinem früheren Leben fällt mir ein. Zum Beispiel die Leichtigkeit, mit der ich mir früher einen Rucksack schnappen und losfahren konnte.
Francesca und ich haben dieses Kind gewollt, doch als sie mir sagte, sie sei schwanger, dachte ich im ersten Moment: Hilfe! Nein-verdammt-warte-noch-einen-Augenblick-ich-weiß-nicht-ob-ich-schon-so-weit-bin-das-heißt-ich-will-es-aber-schaffe-ich-das? Kriege-ich-achtundvierzig-Stunden-Bedenkzeit?
Tausend Ängste, die auf mich niederstürzten wie Kartons in einem Warenlager. Gleich darauf war ich so überwältigt, dass ich mich ins Auto setzen musste. Wir hatten auf dem Parkplatz eines Restaurants getanzt, als sie mir die Neuigkeit mitteilte. Ich war so glücklich, glücklicher hätte ich nur sein können, wenn ich mich verdoppelt hätte. Seit der Verkündigung ist Francesca mit jedem Tag schöner geworden. Noch heute bin ich oft wie verzaubert, wenn ich
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