Leichenschänder
Nummer zweiundsiebzig. Wollen Sie zu ihm?“
Ich nickte.
„Warten Sie, ich begleit Sie. Ich sitz sowieso schon zu lange hier, ich hab schließlich noch was zu tun.“ Sie erhob sich mühsam von der Bank. „Also, Purgi, bis morgen!“
Die beiden Frauen verabschiedeten sich voneinander und ich folgte Erna zur Zweiundsiebziger-Stiege.
Als wir vor dem Stiegenhaus standen, sagte sie: „Ich glaub, der Mikanuda ist nicht daheim. Ich hab ihn nämlich vorhin weggehen sehen, vor einer halben Stunde erst.“
„Ich probier’s trotzdem“, sagte ich. „Können Sie mir seine Türnummer sagen?“
„Dreiundzwanzig.“
Ich marschierte in den zweiten Stock hinauf und blieb vor einer Tür stehen, auf der ein großer, rot-weißer Aufkleber prangte, dessen schwarze Lettern forderten, dass Österreicher nur in österreichischen Geschäften einkaufen sollten. Darüber klebte ein Jägermeister-Emblem, und als Krönung war über dem Spion eine offensichtlich selbstgebastelte Österreichfahne aus Plastilin befestigt, in deren weißer Fläche mit blauer Knetmasse das Wort WIEN geschrieben stand. Ich holte meine Kompaktkamera aus der Manteltasche und schoss ein paar Beweisfotos. Diesen Irrsinn würde mir sonst kein Mensch glauben.
Die Wohnung von Mikanuda lag genau gegenüber derjenigen des nationalen Schwachkopfs. Da hatten sich zwei Einzeller gefunden. Ich drückte auf Mikanudas Klingel, wartete zehn Sekunden und drückte noch mal drauf. Keinerlei Reaktion. Gut.
Erna, die sich hinter mir die Treppe hinaufgemüht hatte, sagte: „Ich hab Ihnen doch gesagt, dass er nicht daheim ist.“
„Müssen Sie nicht schnell einkaufen gehen?“, fragte ich.
Erna warf mir einen verständnislosen Blick zu, biss sich auf die Unterlippe und lächelte mich dann verschlagen an. „Sie wollen beim Mikanuda einbrechen, stimmt’s?“
„Einbrechen würde ich das nicht nennen“, sagte ich. „Ich will bloß schauen, ob ich ein Foto von ihm in der Wohnung finde. Das brauch ich für meine Reportage, und zwar möglichst noch heute, da wir bald in Druck gehen.“
Ernas Gesicht bekam einen listigen Ausdruck. „Könnten Sie von mir nicht auch ein Foto in Ihrer Zeitung abdrucken?“
„Haben Sie denn ebenfalls Geburtshilfe in einer Straßenbahn geleistet?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, aber Ihre Zeitung hat doch eine Seite mit den besten Kochrezepten der Leser. Da könnten Sie mein berühmtes Gulaschspezialrezept abdrucken, und daneben mein Foto. Da ist nämlich immer ein Foto dabei!“ Sie schaute mich triumphierend an.
Ich überlegte kurz und gab dann nach. Was blieb mir anderes übrig?
Ich postierte Erna vor Mikanudas unverschandelter Tür und machte rasch ein paar Aufnahmen von ihrem Gesicht.
Als ich fertig war, sagte sie: „Kommen Sie bitte mit runter, dann such ich Ihnen schnell das Rezept raus.“
Ich fügte mich mit einem stummen Seufzer in mein Schicksal, folgte Erna hinunter ins Parterre und wartete vor ihrer Wohnungstür, während sie in der Küche verschwand und hektisch Schubladen durchwühlte. Nach ein paar Minuten tauchte sie wieder auf und drückte mir einen vollgekritzelten Zettel in die Hand.
„Hier ist das Rezept“, flüsterte sie mit verschwörerisch gesenkter Stimme. „Passen Sie gut darauf auf.“
Ich steckte den Zettel ein, versprach ihr, das Rezept mit dem Leben meines Bosses zu verteidigen, und bat sie, hier unten die Stellung zu halten und mich zu warnen, wenn Mikanuda nach Hause kam. Dann ging ich zurück in den zweiten Stock, holte meine Ehrenmitgliedskarte der
Freunde des Flohzirkus
aus der Geldbörse und knackte damit Mikanudas billiges Schloss in weniger als einer Minute.
Als ich seine Wohnung betrat, stach mir sofort der süßliche Gestank von Zigarillos in die Nase. Mikanuda schien kein großer Freund von häufigem Lüften zu sein. Ich schaute mich rasch um und beschloss, zuerst das Schlafzimmer zu durchsuchen.
Das Bett schaute aus, als hätte man darin Orgien veranstaltet. Das Leintuch war fleckig und teilweise zerrissen, die schmuddelige Decke mit zahlreichen Brandlöchern übersät. Der Kopfpolster schimmerte gräulich und war dünn wie ein Handtuch, die klumpige Matratze stammte vermutlich vom Sperrmüll. Ein wahrlich lauschiger Ruheplatz.
Die restliche Einrichtung bestand aus zwei abgewetzten, orangefarbenen Sesseln, die auf einem fadenscheinigen grauen Teppich standen und einem klapprigen Regal, das größtenteils mit medizinischen Fachbüchern gefüllt war. An den Wänden hingen vergilbte
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