Leichensee
die Geschäfte. Die Leute, die er befragte, waren weniger verschlossen als befürchtet.
Mrs Cooper, eine mollige Lady in den besten Jahren, die neben ihrem Krämerladen auch das örtliche Postamt betrieb, erwies sich als unerschöpflicher Quell, was Informationen über die Einwohner Chappaquiddicks anging. Allerdings war das nur der übliche Tratsch, mit dem Cotton wenig anfangen konnte. Er wollte sich schon verabschieden, da huschte ein Schatten über das bis dahin so fröhliche Gesicht der Frau.
»Das ist wirklich eine ganz furchtbare Sache am Strand«, sagte sie mit gesenkter Stimme. »Finden Sie nicht auch?«
Cotton stand wie vom Donner gerührt da.
»Können Sie sich vorstellen, wie jetzt die Angst bei den Leuten hier umgeht?«, fuhr die Lady im verschwörerischen Tonfall fort. »Jeder könnte doch der Mörder sein, oder? Dabei steht doch gar nicht fest, ob der Verbrecher überhaupt hier wohnt. Ich denke, statt um uns sollten wir uns besser Sorgen um die Urlauber für die nächste Saison machen. Wer verbringt schon seine Ferien auf einer Insel, auf der er ermordet werden könnte?«
Cotton verließ besorgt den Laden. Es war weniger die Frage, woher Mrs Cooper von den Leichenfunden wusste, die ihn beschäftigte, als vielmehr die Befürchtung, dass inzwischen jeder im Ort davon erfahren hatte.
Er setzte seine Befragung in der einzigen Metzgerei von Chappaquiddick fort. Mrs Browning, die Verkäuferin, war eine gutmütige Lady mit dem Herzen am rechten Fleck. Trotzdem konnte auch sie Cotton nicht viel mehr erzählen als Mrs Cooper. Wie befürchtet, wusste sie ebenfalls von den Leichenfunden am Strand.
So ging es den ganzen Vormittag weiter. Das einzige Ergebnis der Befragungen war, dass offensichtlich jeder über das Massengrab am Strand Bescheid wusste.
Gegen Mittag machte Cotton Halt in einem Coffeeshop auf der Hauptstraße. Davor parkte ein leerer Streifenwagen. Der Coffeeshop war erstaunlich gut besucht. Unter den Gästen entdeckte Cotton auch Pearce. Der Sheriff verbrachte hier jeden Mittag seine Pause, um etwas zu essen. Er saß mit zwei Bekannten an einem der hinteren Tische. Betont langsam biss er in einen Hamburger und ließ den G-Man dabei keinen Moment aus den Augen.
Der tat so, als würde er den Sheriff nicht bemerken und schlenderte an den Tischen vorbei, ohne dass ihm jemand groß Beachtung schenkte. Die Gäste diskutierten lieber über die Leichenfunde, die seit den frühen Morgenstunden Tagesgespräch in Chappaquiddick waren.
»He Sheriff, ist es wahr, dass Sie gestern Nachmittag noch zwei Leichen ausgegraben haben?«, rief einer der Männer quer durch den Raum.
Pearce grummelte etwas Unverständliches.
»Vermutlich steckt irgendein Perverser dahinter«, bemühte sich ein anderer um ein Täterprofil.
Cotton setzte sich an einen leeren Tisch und spitzte die Ohren. Manchmal erhielt man aus Gehörtem mehr Informationen als durch eine Befragung. Dabei beobachtete er eine junge Kellnerin, die den Leuten ihre Bestellungen brachte. Sie war Anfang zwanzig, ausgesprochen hübsch und hatte ein intelligent wirkendes Gesicht mit honigfarbenem Teint. Die Figur war auch nicht schlecht – schlank mit unendlich langen Beinen. Ihre dunklen Haare hatten Strähnchen und waren seitlich gescheitelt. Sie trug ein weißes Shirt, das in verwaschenen Jeans steckte, und rosafarbene Ballerinas. Allerdings war es weniger das gute Aussehen der Kellnerin, das Cotton verzauberte, sondern die Art, wie sie mit den rauen Kerlen an den Tischen umging, deren scherzhaft gemeinte Sprüche manch anderer Lady die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte.
Die Kellnerin trat an Cottons Tisch und fragte kess: »Was darf’s sein, schöner Fremder?«
Es gefiel ihm, wie sie ihn ansah. »Gibt es hier auch Hamburger mit Pommes frites, oder Pizza?«
»Natürlich, unser Coffeeshop ist berühmt wegen seiner kulinarischen Vielfalt.« Sie grinste schelmisch. »Voraussetzung für den Verzehr sind allerdings strapazierfähige Arterien. Die Köstlichkeiten dürften nämlich ihren Cholesterinspiegel zu neuen Höchstmarken treiben.«
Cotton bestellte einen Kaffee, dazu Hamburger und Fritten. Es dauerte keine zehn Minuten, dann brachte ihm die Kellnerin das Bestellte.
»Haben Sie sich hierher verirrt, oder wollen Sie Ihren Sommerurlaub nachholen?«, erkundigte sie sich beiläufig, während sie Teller, Besteck und Tasse abstellte.
»Der Grund könnte möglicherweise auch ein ganz anderer sein«, antwortete Cotton mit charmantem Lächeln.
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