Leichensee
Spuren?«, blaffte der Sheriff sie an. »Lady, hier liegen nur morsche Knochen rum, da gibt es keine Spuren mehr. Abgesehen von ein paar vermoderten Lumpen, die an den Gerippen hängen.«
»Für Sie mögen das nur Knochen und Lumpen sein, für einen Experten sind es Spuren, die fachmännisch gesichert werden müssen.« Decker starrte dem Sheriff fest in die Augen, ohne zu blinzeln. »Deshalb werden Sie Ihre Buddelei auf der Stelle einstellen und die Arbeit Fachleuten vom FBI überlassen, die ich heute noch anfordern werde.«
»Ach ja?«, fuhr er sie wutschnaubend an. »Verschonen Sie mich mit Ihren Experten. Wir machen die Dinge hier oben auf unsere Art. Und wenn Ihnen das nicht passt, dann können Sie mich mal …«
»Bei allem Respekt, Sheriff, aber wir sind nicht den weiten Weg von New York gekommen, um Ihnen beim Zerstören von Beweisen zuzusehen.« Genervt vom Kompetenzgerangel zog Decker ihr Smartphone aus der Jackentasche. »Ich rufe mal kurz bei Ihren Vorgesetzen auf Martha’s Vineyard an, dann klären wir die Zuständigkeiten an Ort und Stelle.«
Ihre Drohung zeigte Wirkung. Der Sheriff hatte die Botschaft kapiert. In seinem Gesicht zuckte es.
»Okay, lassen wir die Spielchen, schließlich sind wir alle hier, um ein Verbrechen aufzuklären«, lenkte er widerwillig ein. »Und zwar möglichst rasch und diskret. Wenn bekannt wird, dass wir an diesem Strand einen Friedhof entdeckt haben, fallen die Reporter wie die Heuschrecken über den Tatort her. Ich habe das Neunundsechzig erlebt. Damals, als Senator Edward Kennedy auf der Dike Bridge verunglückte, wobei seine Geliebte ums Leben kam. War ein ziemlicher Skandal.«
»Über wie viele Leichen sprechen wir hier eigentlich?«, fragte Cotton.
»Achtzehn, wobei sich die Zahl erhöhen kann. Wir durchkämmen immer noch die Dünen. Inzwischen haben wir das Suchgebiet von anfangs zwanzig Yards im Quadrat auf einhundert ausgedehnt.«
»Der Täter besitzt auf jeden Fall gute Ortskenntnisse«, stellte Decker fest. »Er hat für die Entsorgung seiner Opfer einen dünn besiedelten und für den Besucherverkehr gesperrten Küstenabschnitt gewählt.«
»Deshalb haben wir die Toten nicht schon früher entdeckt«, erklärte Sheriff Pearce.
»Gibt es Verdächtige?«, wollte Cotton wissen.
»Nein.«
»Weiß man etwas über den Todeszeitpunkt der Opfer?«
»Einige liegen bestimmt schon seit Jahrzehnten hier. Manche vielleicht seit drei oder vier Jahren.«
»Aufgrund der bisherigen Faktenlage können wir wohl von einem Serienmörder ausgehen«, sagte Decker.
»Der heute noch aktiv sein könnte«, ergänzte der Sheriff.
»Konnten schon einige der Opfer identifiziert werden?«
»Nein. Wir wissen bloß, dass es ausschließlich Frauen sind. Die Stoffe an den Skeletten waren zwar schon ziemlich vermodert, aber noch als Kleider, Röcke oder Unterwäsche identifizierbar.«
»Gab es in den vergangenen Jahren Fälle von vermissten Frauen auf den Inseln?«
»Nein, bei uns gab es seit Jahrzehnten keine Vermisstenmeldung.«
»Also handelt es sich bei den Opfern vermutlich um Urlauberinnen«, resümierte Decker. »Wohin wurden die bisher exhumierten Leichen gebracht?«
»In die Pathologie von Edgartown«, antwortete der Sheriff.
»Veranlassen Sie bitte, dass alle sterblichen Überreste umgehend zum FBI nach New York überführt werden. Unsere Experten sollen die forensischen Untersuchungen durchführen.«
»Wird veranlasst.« Pearce hob den Kopf und blickte mürrisch aufs Meer hinaus. »Sonst noch was, Ma’am?«
»Es wäre nett, wenn Sie uns Ihren Namen verraten würden«, erwiderte sie in eisigem Tonfall.
»Pearce. Edmund James Pearce.«
»Danke, das wäre dann im Moment alles, Mister Pearce. Packen Sie jetzt Ihren Kram hier zusammen und fahren Sie nach Hause. Wir kehren nach Martha’s Vineyard zurück. Morgen nehmen wir die Ermittlungen auf.« Decker gab ihm ihre Visitenkarte. »Wenn etwas Wichtiges sein sollte, rufen Sie mich an. Auf der Karte steht die Nummer meines Smartphones. Und direkt darunter finden Sie die Adresse des FBI in New York, wohin die Leichen zur Autopsie geschickt werden sollen.«
Pearce steckte die Karte ein, ohne sie eines Blickes zu würdigen, drehte sich mit zusammengebissenen Zähnen um und stapfte frustriert zu den beiden Deputys zurück.
»Das nenne ich ein konstruktives Gespräch«, meinte Cotton auf dem Weg zum Auto. »Ich fürchte, mit der örtlichen Polizei haben wir es uns gerade gründlich verdorben.«
»Wenn ich zu Anfang kein
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