Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
verließ die Station wortlos. Er hatte diesen Moment so oft durchlebt, dass er annahm, auch die anderen wüssten, was zu tun war. Die Schritte hinunter zu den Umkleideräumen der Männer, das Aufhängen des Kittels im Schrank, die Fahrt mit dem Auto zum Zentralkrankenhaus, wo ein Springbrunnen stand, der kleine Regenbögen schuf.
Mikael verbrachte mehr als eine Stunde bei Saana im Zimmer.
Die nächsten Verwandten wohnten in Turku, der Stadt, aus der Mikael Saana vor zehn Jahren geholt hatte, zu einer Zeit, als es noch so viele Möglichkeiten gab, dass man nicht ernsthaft über Pläne zu reden brauchte. Die würden kommen, wenn es so weit war. Saanas Eltern waren schon gestorben. Deshalb war sie oft so bedrückt und streitbar, deshalb sah Mikael ihr vieles nach. Saana war elternlos, kinderlos. Die Geschichte war ausradiert, die Zukunft schrumpfte auf das Maß des eigenen Lebens. Alles steckte in diesem einen Körper, der nun unbeweglich dalag. Wie eine Muschel auf dem Grund eines fernen Lebens. Nur existierend, zerbrechlich und schön, aber ohne Geschichte.
Als Mikael hörte, dass die Krankenschwester zur Tür hereinschaute, wusste er, dass es Zeit war, Abschied zu nehmen. Erzwang sich, Saanas noch warme Wange zu berühren, die Spur ihres Haaransatzes zu streicheln und zu küssen, obwohl ihm Rotz und Tränen über das Gesicht liefen wie einem enttäuschten Kleinkind.
Zum Schluss, als er Saanas ausgezehrten Arm umfasste, erinnerte er sich an ihre letzte Geste und verstand. Er bog ihren Zeigefinger gerade und hob ihre Hand, ließ Saana noch einmal auf die Vögel am blauen Himmel zeigen.
Informationen zum Buch
Ein Tag im Mai 1995. Finnland feiert gerade den Gewinn der Eishockeyweltmeisterschaft, da wird in den Hochhausschluchten einer Großstadt ein grausames Verbrechen an einem Kind verübt. Der Mörder ist Olavi Finne, ein einsamer alter Mann, der die Tat zwar unumwunden gesteht, sich aber nicht erklären kann, wie es dazu gekommen ist. Er wird in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht.
Mehr als zehn Jahre danach wird dem dreißigjährigen Mikael die Pflege des Kindsmörders übertragen. Mikael befindet sich mitten in einer Lebenskrise: Seine Frau Saana ist unheilbar krebskrank, und er selbst kämpft mit den Folgen eines gewalttätigen Zwischenfalls mit einem früheren Patienten. Das Band zwischen Mikael und Olavi wird schnell enger, und Mikael interessiert sich zunehmend für die verrückten Geschichten des seltsamen Alten – Geschichten von der Möglichkeit ewigen Lebens und dem Sieg über den Tod. Sie wecken in Mikael neue, bizarre Hoffnungen …
Informationen zum Autor
Marko Hautala , 1973 im finnischen Kauhava geboren, ist Lehrer für englische Sprache und Literatur und gibt Kurse für kreatives Schreiben. Zuvor arbeitete er als Pfleger in einer psychiatrischen Klinik und als Übersetzer. 2010 erhielt er für ›Leichentücher‹ den Kalevi-Jäntin-Preis für junge Autoren, eine der wichtigsten Auszeichnungen in Finnland. Bei dtv ist bereits von ihm erschienen: ›Schatteninsel‹ ( dtv 21426).
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